Lyropolis

Wir werden alle Augenblicke unseres Lebens wiedererlangen und sie kombinieren, wie es uns gefällt. Gott, unsere Freunde und Shakespeare werden unsere Mitarbeiter sein.

Jorge Luis Borges

KUNO war bereits hingerissen und stimmte ein Lob der Textkette an. Nun hat diese Initiative, wie man neudeutsch in der Computerspielsprache sagt, das nächste Level erreicht. Diese Textkette ist kein Platz zum Veröffentlichen eigener Gedichte. Es ist eine interaktive, labyrinthische Lyrikbibliothek von Babel – eine Gemeinschaft von Enthusiasten aus aller Welt, die mehr als bestätigt hat.

Für den, der mitmachen will, gibt es folgende Spielregel: Er muß sich einmalig anmelden und wird dadurch Mitarbeiter / Mitbürger. Jeder Mitarbeiter kann sich durch Klicken des “Like”-Buttons an ein beliebiges vorhandenes Gedicht andocken und bekommt dann von dem Elektor dieses Gedichts einen Autornamen zugeteilt, von dem er ein Gedicht auswählen kann. Durch dieses umständlich anmutende Verfahren wird verhindert, daß “die üblichen Verdächtigen” in einfach eine weitere Anthologie eingereiht werden.

Michael Gratz gibt ein Beispiel: Bei dem über Jahre mit landesweiten Veranstaltungen in den USA gelaufenen “Favorite Poems Project” traten Tausende Prominente und Normalbürger auf und lasen “ihr Lieblingsgedicht” vor, das wurde gefilmt und ins Netz gestellt. Präsident Clinton beteiligte sich und las ein sehr pädagogisches, patriotisches und imperiales Gedicht von Rudyard Kipling. So kommt auf lange Sicht nur das Erwartbare zustande. Diese Textkette hat in kurzer Zeit zu unvorhersehbaren Beiträgen geführt, mehr als jeder einzelne Teilnehmer erreicht hätte.

Textkette soll sich in Zukunft zu einer Art Lyropolis entwickeln mit Agora, Bibliothek, Gericht, Akademie, Privaträumen, vielleicht auch einem Kaufhaus usw. Nach einer Erprobungsphase soll eine “verfassungsgebende Versammlung” zusammentreten. Textkette ist öffentlich zugänglich, aber nicht über Suchmaschinen erreichbar – es geht nicht darum, eine weitere allgemeine Ressource zu schaffen, sondern tatsächlich um eine Gemeinschaft, die ihre Angelegenheiten gemeinsam regelt. Wenn das Projekt lang genug läuft, enthält es wie die Bibliothek von Babel des Jorge Luis Borges quasi alle vorhandenen und möglichen Texte aller Zeiten und Sprachen.