Aus Noten werden Bilder

Wäre man ernsthaft synästhetisch veranlagt, hört man beim Sehen des Frankfurter Künstler Benjamin Samuel grandiose Farbstrukturen bei der Übersetzung von Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven in visuellen Formen und Farben. Alles anderen müssen sich die Bilder mit einem ipod-Stöpsel im Ohr anschauen.

Was verbleibt von der Musik würde man sie außerhalb der zeitlichen Dimension betrachten?

Dieser Kerngedanke trieb den Künstler Benjamin Samuel, die einzigartigen Variationswerke, die Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach und die Diabelli Variationen von Ludwig van Beethoven, in ihrer Vollständigkeit in eine andere Ebene zu transferieren, die der Visuellen.

Das Resultat dieser außergewöhnlichen Umsetzung ist erstaunlich. In zwei großen Installationen entpuppt sich ein mannigfaltiges Farbenspiel mit verblüffenden Resultaten. Das Stichwort und der Motor seiner Arbeit waren die Worte: „Töne in Farben.“ Benjamin Samuel knüpft somit an eine Tradition von Wissenschaftlern und Künstlern an, Töne in Farben zu übersetzen.

Es fing alles mit dem Wissenschaftler Isaac Newton an. Er beschrieb bereits 1704 in seinem revolutionären Werk Opticks ein profundes, mathematisches Beziehungsgeflecht zwischen Farben und Tönen. Diese bahnbrechende Idee griffen im Laufe der Epochen auch etablierte Komponisten in ihren musikalischen Werken mit auf: Lichtspiele als Teil ihrer Kompositionen.

Plötzlich fiel das Wort „Farbenklavier“, plötzlich fiel das Wort „Lichtorgel“ und plötzlich standen nicht nur akustische Töne im Mittelpunkt des Werkes, sondern auch ihre visuelle Architektur. Sei es der Russe Alexander Skrjabin in seiner symphonischen Dichtung Promethée oder der Grieche Iannis Xenakis der in seinem Licht- und Klangspektakel Polytope de Montréal einem verwunderten Publikum ein audio-visuelles Spiel vorlegte, bis hin zu den populären, psychedelischen Liquid Light Shows der 1960er Jahre, wie z.B. von Mike Leonard für die britische Rockband Pink Floyd oder von Joshua White für das Rock-Konzerthaus Fillmore East in New York.

Trotz der faszinierenden Vielfältigkeit dieser spektakulären Darbietungen ist sich der Künstler Benjamin Samuel aber auch der Unzulänglichkeiten dieser vielen, unterschiedlichen Methoden bewusst: „Töne mit Farben zu verbinden birgt ein Dilemma in sich. Dies beginnt bereits beim Reiz“, erklärt der Künstler, „Licht und Schall sind physikalisch grundverschiedene Phänomene.

Ebenso verhält es sich mit der Funktion menschlicher Sinnesorgane: Das Auge und das Ohr übersetzen ihren jeweiligen Stimulus unterschiedlich.“ Auch der deutsche Physiker Hermann Helmholtz wies in seinem Habilitationsvortrag „Über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen“ darauf hin „wie wenig Analogie zwischen Tonempfindung und Farbempfindung besteht.“

Warum versuchten Wissenschaftler wie Künstler diese beiden Phänomene gewaltsam zusammenzubringen? War es ein unerreichbares Wunschdenken oder gar ein unrealistisches Fantasiegebilde?

Farbskalen und Tonleiter: Die Idee in die Tat umsetzen

 „Eine Analogie von Tönen und Farben kann sich nur bei der menschlichen Wahrnehmung abspielen“, schlussfolgert der Künstler. „Die grundlegenden Reize – Licht und Schall – sind zwar verschieden, erreichen aber das Gehirn in gleicher Art und Weise. Die Sprache des menschlichen Gehirns ist immer gleich. Es verarbeitet nur elektrische Impulse.“ Die Krux liegt demnach in einem physiologisch-psychologischen Phänomen. Benjamin Samuel erklärt: „Auf die Interpretation der Töne untereinander und der Farben untereinander kommt es an, nicht eine absolute Verbindung zwischen einem bestimmten Ton und einer bestimmten Farbe willkürlich herzustellen, wie es etwa Newton im 18. Jahrhundert versuchte, indem er der Note „C“ die Farbe Blau zuordnete. Ob die Note „C“ blau definiert ist, mag gewiss beliebig und willkürlich sein, jedoch nicht“, so der Künstler insistierend, „dass eine weitere Note „C“, eine Oktave höher gespielt, ein helleres Himmelblau wäre oder die Dominante „G“ der Komplementärfarbe Gelb entspricht. Töne die gleichzeitig erklingen, musikalische Intervalle und Akkorde, ergeben mehr als die Summe ihrer Teile – dies gleicht der Mischung von Farben und nicht der parallelen Anordnung einzelnen Primärfarben.“

Der Künstler Benjamin Samuel griff in seinen Werken feststehende Regeln der Musik und der Farbenlehre auf, um die beiden Variationswerke optisch zu übersetzen.

Die Technik der Programmierung

 Technisch setzte Benjamin Samuel diese Idee im Rechner um, indem er die Farb- und Helligkeitswerte eines HSB-Farbraummodells (Hue/Saturation/Brightness) mit einer chromatischen Tonspirale verknüpfte. Die Variationswerke wurden vorerst im digitalen MIDI-Format (Musical Instrument Digital Interface) notiert und mit einem eigens für diese Arbeiten selbst zugeschnittenen Programmiercode interpretiert. Den einzelnen, überlagernden Tonereignissen wurden entsprechende Farben zugeordnet und anschließend, im Computer, gemischt. Der Umfang war überwältigend, die Goldberg Variationen entsprachen insgesamt 75.730 verarbeiteter Zeilen MIDI-Code, die Diabelli Variationen 67.770 Zeilen. Die virtuell gemischten Farben wurden in einem zwei-dimensionalen Koordinatensystem gesetzt. Jede Zeile entspricht einer Variation, jede Variation beginnt am linken Rand und hört am rechten Um diesen Effekt in seinem Programm umzusetzen bediente sich Benjamin Samuel bei der Übersetzung der Diabelli Variationen sogenannter mathematischer „ADSR-Hüllkurven“ (Attack, Decay, Sustain, Release), eine Technik die bei der Tonerzeugung in modernen Synthesizern Anwendung findet um etwa den Klang eines Klaviers zu emulieren.

„Architektonische Strenge“ und „Entfesselte Virtuosität“

Benjamin Samuel lag es nicht nur daran, die Verhältnisse der Töne sichtbar zu machen, sondern zusätzlich das Verhältnis der einzelnen Variationen zueinander zu enthüllen, indem er die Gesamtheit der bildhaften Kompositionen auf einen Blick komprimierte. „Da ich die Systematik der Übersetzung definiert habe, ist das Ergebnis unvorhersehbar – ich muss gestehen, dass das Endresultat für mich eine verblüffende Überraschung darstellte.“

Insbesondere die rigide Grundharmonik der Goldberg Variationen entfacht sich sehr deutlich im Bild: Jede Variation beginnt und endet mit einer Kadenz in G-Dur, im Kunstwerk deutlich sichtbar, durch die beiden hervorstechenden blauen Säulen, jeweils am linken und rechten Rand des Bildes. In der Mitte, das Ende der zweiten Kadenz in D-Dur, entpuppt sich eine Mittelachse, im strahlenden Gold leuchtend, die das Gesamtwerk symmetrisch gliedert. Bei diesem Anblick ist man verführt, die Worte Glenn Goulds wörtlich zu nehmen, der im Begleittext zu seiner berühmten Schallplatten-Aufnahme der Variationen aus dem Jahre 1956 den amerikanischen Cembalisten Ralph Kirkpatrick zitierte, der „die Variationen mit einer phantasievollen, architektonischen Analogie beschrieb: ‚Gerahmt wie von zwei begrenzenden Pylonen‘.“

Hingegen können Beethovens Diabelli Variationen nicht verschiedener sein: Weder „blaue Pylonen“ noch eine goldene Mittelachse treten hervor, die architektonischen Strenge eines Barock-Komponisten Bachs weicht einer ungezügelten Methodik. Ebenso wörtlich vermag man die Empfindung des deutschen Musikologen Volker Scherliess verstehen, der die Diabelli Variationen eingehend beschrieb: „Entfesselte Virtuosität neben lyrischen Ruhepunkten; farbige Flächigkeit wechselt mit Abschnitten, in denen schroffe Akzente das Thema gleichsam gegen den Strich kämmen“. Des Weiteren begeisterte sich der Dirigent und Pianist Hans von Bülow, der im Diabelli „ein Abbild der ganzen Tonwelt“ erschaute, in der „unvergleichbare reichste Mannigfaltigkeit, in diesem Werk zur beredtesten Erscheinung gelangen.“

 

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Benjamin Samuel ist der Künstlername von Benjamin Samuel Koren. Er wurde 1981 in Frankfurt am Main geboren. Studium der Architektur, Filmwissenschaft und Musik an der Architectural Association in London, der Universität für Angewandte Kunst Wien und der University of Miami. Zurzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

2012 erwarb das Deutsche Filmmuseum Frankfurt zwei Lichtinstallationen des Künstlers, Hitchcock 30 und Kubrick 13+9+10, die dauerhaft im Foyer des Museums in Frankfurt ausgestellt sind.

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