Adaption des “Anderen“

Elemente japanischer Verstechnik in der deutschen Gegenwartslyrik

 

Obgleich deutsche Lyriker schon seit langem mit fernöstlicher Poesie vertraut sind, man denke nur an Holz, Rilke, Klabund, Loerke, Brecht u. a., ist die Anzahl von heutigen Autoren, die sich dieser Kleinformen bedienen, recht gering. Man kann unter anderem F. H. Delius, U. Becker, Th. Böhme, G. Jappe nennen.

Es sei bemerkt, daß es die spezifische Form und deren mittelbare Verankerung in Deutschland kaum erlauben, von einer adäquaten Rezeption dieser Lyrikgattung in der deutschen Poesie zu sprechen. Aufgrund des Sprachunterschied ist es kaum möglich, die innere Form der japanischen Lyrikminiaturen mit absoluter Genauigkeit wiederzugeben. Außerhalb der heimischen Grenzen werden solche Kleinformen logischerweise an die Eigentümlichkeiten der jeweiligen Fremdliteratur angepasst.

Im Unterschied zur traditionellen Haikuform, die es ausschließlich mit simultaner Beschreibung von Naturerscheinungen zu tun hat, umfassen die heutigen deutschen Kurzgedichte, die sich japanische Formen als Vorbild nehmen, „die Gesamtheit unserer Welt von der Vergangenheit bis in die heutige Zeit“[1]:

Gestern und heute
Stunden, Tage und Jahre
vereint Geschichte[2]

Anders gesagt, haben die modernen deutschen Haikus keine thematischen Grenzen. Die Autoren beschreiben „den wunderbaren Augenblick nicht nur in der Natur, sondern in allem, was der Mensch imstande ist wahrzunehmen“ (G. Börner):

Gräser welken schon.
Im Tau hängt noch der Morgen
die Welt kopfüber[3]

Im Grunde genommen geht es eigentlich nicht um Haikus, sondern um ihre Varianten, Hokku und Senry.

J. Hagen, Autor von Kriminalromanen, passt die Haikuform an sein beliebtestes Literaturgenre an, indem er mit 17 Silben eine richtige Detektivgeschichte erzählt:

Im Dunkeln Schritte.
Und dann ein grausiger Schrei.
Das fängt ja gut an[4].

Von der thematischen Breite der modernen deutschen Haikus zeugen die Kurzgedichte von U. Becker. Seine „Asphalthaikus“ zum Beispiel demonstrieren eine hervorragende poetische Ausdruckskraft:

Als Asphaltpflanze
macht man sich keinen Begriff,
was da kreucht und fleucht![5]

***

Oha, ein Täubchen,
das träg auf dem Ölzweig hockt:
Der Frieden ist faul[6].

Eine Form, die Haikus imitieren will, sollte, so meint G. Börner, den Leser zu einem Miterlebnis anregen. Der Haikutext erklärt nichts, er bietet nur ein Bild an. Der Leser muss selbst das Rätsel lösen:

Im Weidenschatten
Still kosen Zweige den Fluss,
der nicht mehr heimkehrt[7]

Das traditionelle Haiku sollte den Augenblick der buddhistischen Erleuchtung einprägen. Das deutsche Kurzgedicht, das auf traditioneller japanischer Form beruht, drückt in der Regel auch ein spontan entstandenes Bild aus:

Der Schuss im Herbstwald.
Blätter
färben sich still
Выстрел в осеннем   лесу.
Листья
окрашиваются молчанием[8]

Doch die meisten Autoren, die Haikus auf deutsch verfassen, bezwecken die Wiedergabe des eben genannten buddhistischen Augenblicks nicht. Und selbst wenn dieser Zustand erlebt wird, hat seine Ausdrucksweise eher den Charakter eines impressionistischen „Eindrucks“:

Der Marienkäfer
An der Hibiskusblüte
Im Aschenbecher[9]

Obgleich die maximale Verdichtung der Sprache bei den meisten modernen Autoren ein Ziel ist, gibt es nur wenige, die zur Haikuform greifen. Das ist teilweise damit zu erklären, daß die modernen Autoren auf jeweilige formale Begrenzungen (Metrum, Reim etc.) verzichten. Aber sie sind sich auch dessen bewusst, daß „der Zauber dieser Form“[10] (so G. Kallesen) in ihrer Nationalspezifik liegt und daß die deutsche Sprache zu wenig geeignet ist, sie richtig wiederzugeben.

Trotzdem bedeutet es bei weitem nicht, daß den deutschen Lyrikern der in der japanischen Form implizierte Gedankengang fremd ist:

Totengedenken
Trauerweiden neigen sich
zur ewigen Ruh[11]

M. Ach erklärt zum Beispiel seine Vorliebe für die Haikuform unter anderem damit, daß sie “den Augenblick als ein intensives Paradieserlebnis außerhalb von Zeit und Raum”[12] ausdrücke. I. Cesaro vergleicht das Verfassen von japanischen Miniaturen “mit einer Meditation, mit Atmen oder Gehen”[13].

Doch die meisten Autoren (so A. Rautenberg) greifen zu dieser Form hauptsächlich wegen ihrer klaren und lakonischen Gestalt:

Im Widerspruch zu
Allem Eindruck
Der Ruckdruck
Von Tastaturen[14]

Manche meinen (so S. Lafleur, E. Stahl), daß diese japanische Form im Deutschen erst dann realisiert werden kann, wenn sie ihrer ursprünglichen ästhetischen Funktion entfremdet ist. „Mir gefällt es“, gesteht S. Lafleur, „aus solchen poetischen Augenblicksverdichtungen dirty moments herauszupressen oder etwas höchst Banales auszudrücken, etwa den Anblick von Wurst statt blühender Kirschbäume“[15]:

die bratwurst drei mark
das broetchen kostet extra
der senf is umsonst[16]

Es gibt keine exakten Kriterien, nach denen die Qualität gegenwärtiger Haikus beurteilt werden kann. Man ist aber der Meinung, daß diese Form nicht nur jeder inhaltlichen Banalität, sondern auch Dunkelheit und Kompliziertheit fremd ist, und daß sie zugleich einen hohen Grad von Bildhaftigkeit erfordert[17]. H. Laschet-Toussaint meint unter anderem, daß es für europäische Dichter fast unmöglich ist, all dies zu erzielen, ohne daß die ursprüngliche Reinheit des japanischen Haikus verletzt wird, das heißt, ohne daß man zu Metapher und Rhetorik greift und dadurch den Hi (Urspannung, Urkraft) zerstört[18]. I. Cesaro vermeidet zum Beispiel, seine lyrischen Miniaturen als Haikus zu bezeichnen, und nennt sie einfach Dreizeiler, und zwar “aus tiefer Ehrfurcht vor der Tradition”[19]. Er meint, Haikus würden von selbst geboren, seine eigenen Kurzgedichte seien dagegen “verfasst”[20].

Die scheinbare Einfachheit der Form provoziert viele Laien, auf sie zurückzugreifen. Nachlässig können auch professionelle Dichter im Umgang mit Haikus sein, wenn sie manchmal die dreizeilige (5-7-5-silbige) Struktur des traditionellen Haikus verletzen:

Übern Damm zu Fuß
willste, übern Jordan gehen?
So ein leichtes Ziel[21].

Im deutschen Haiku ist die Silbenzahl an den Textrhythmus gebunden. 17 Silben gelten dabei als obere Grenze.

In der Regel bestehen die Gedichte, die die Haikuform nachahmen, aus drei Hauptsätzen oder aus einem bis zwei Satzgefügen. Jede Zeile hat dabei eine bestimmte semantische Funktion. Die erste gibt die Bildkonturen an, die zweite entfaltet das Bild, und die dritte schließt als Pointe – ein stilistischer Kunstgriff, der für die europäische Tradition charakteristisch ist:

Durchs Kaleidoskop
sieht man im Asphaltdschungel
ein Zebra streifen[22]

***

Paradiesträume
zerplatzt im Regenbogen
der Seifenblase[23].

Das traditionelle Haiku beinhaltet, wie gesagt, einen versteckten Sinn, den der Leser zu enträtseln hat.

G. Börner zeigt dies unter anderem am Beispiel eines Buson-Haiku:

Ein Eimer ohne Boden
rollt und rollt
im Herbstwind[24]

Der Leser kann dabei folgende Assoziationen bekommen: Er sieht und hört einen Eimer ohne Boden, vom Wind getrieben, die Straße entlangrollen. Einst war er im Haushalt nützlich. Man trug Wasser in ihm, Kartoffeln und Körner. Jetzt aber ist er alt, nutzlos, ja herrenlos und kann sein Schicksal auf diese Weise beklagen.

Die Pointe dagegen bewirkt eine eindeutige Interpretation und gibt dem Leser kaum die Möglichkeit, kreativ zu werden.

Während das traditionelle Haiku syntagmatische Zeilengliederung hat, trifft dies für die modernen zeilenübergreifenden Varianten oft nicht zu. Solche Zeilenbrüche können zum Beispiel dazu dienen, die Bivalenz der betreffenden Sinnelemente hervorzuheben:

Dann wird man wohl zum
Mythomanen. Stofflos. Hohl—
Die Jetzzeit. Adieu![25]

***

Bierleuchten: Kerzen
Schein hinter dem perlenden
Glas Pilsner Urquell[26].

Das gegenwärtige deutsche Haiku lässt Umgangssprache, Slang und Dialekt zu:

Wat wollze hier ej?
Jetz freuste dich schon DASS de
Und nich mehr WAS de[27]

All das zeugt davon, daß diese japanische Form von den heutigen deutschen Autoren den üblichen Formen des Kurzgedichtes in vielen Zügen gleichgesetzt und praktisch als Bestandteil der heimischen Tradition verstanden wird. Es ist zum Beispiel schwer zu sagen, was G. Ebert mit seinem Gedicht bezweckt hat:

Wie ein Blatt vom Ast
löst sich die wunschlose
Seele vom Leben[28].

M. Ach verstößt gegen alle Haiku-Regeln, indem er mit 17 Silben eine alte, aber bis jetzt aktuell gebliebene Dorfgeschichte erzählt und mit Elementen des europäischen Versbaus – sein Haiku hat acht Alliterationen, drei männliche Endreime und durchgängig- Trochäen – auf postmodernistische Weise spielt:

Weibsstück, Wangen rot,
schwanger, Schande, schwere Not,
Trachtler, Tümler, Tod[29].

***

 

Prof. Dr. habil Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie.

Quellen

[1] Börner G. Japanische Lyrik und das Welthaiku // Japan lebt— http://www.titel-magazin.de; или: Internationale Kurzlyrik oder Welthaiku?, http://www.ideedition.de/welthaiku.HTM

[2] Gradl Ch. Wortraum. Haiku. Schweinfurt, 2002. S. 44.

[3] Börner G. Neue Texte. Haiku. Sommer —http://www.ideedition.de/DEUHAIKU.HTM

[4] Hagen. U. Haiku Kriminale. Weilerswist, 1997. S. 84.

[5] Becker U. Dr. Dolittles Dolcefarniente. In achtzig Haiku um die Welt. Augsburg, 2000. S. 7.

[6] Ibid. S. 6.

[7] Börner G. Neue Texte. Haiku. Sommer …

[8]Friebel, V. http://www.haikuhaiku.de/haiku-vf.htm.

[9]Rautenberg, A. www.forum-der-13.de.

[10] Brief v. 17.08.2001.

[11] Gradl Ch. Wortraum … S. 37.

[12] Brief v. 25.11.2002.

[13] Brief v. 2.12.2002.

[14] Unveröff.

[15] Brief v. 24.09. 2001.

[16] Unveröff.

[17] Sieh. Ausführl.: Börner G. Einige Überlegungen zum deutschen Haiku // http://kulturserver-nds.de/home/haiku-dhg/dhg_seite_fr.htm.

[18] Brief v 13.07.2002.

[19]Brief v. I. Cesaro v. 2.12.2002.

[20] Ibid.

[21] Becker, U. Fallende Groschen. Asphalthaikus. Augsburg, 1993. № 10.

[22] Becker, U. Fallende Groschen … № 6.

[23] Gradl Ch. Wortraum … S. 18.

[24] Zit. nach.: Börner G. Was ist ein Haiku? — http://www.ideedition.de

[25] Rautenberg, A. Totalemente Öde — Mit 10 Haikus aus der Langeweile. Bremen, 2001. S. 13.

[26] Unveröffentl.

[27]  Unveröffentl.

[28] Ebert G. Wie ein Blatt vom Ast // Literarische Steine. 53 Gedichte aus 4000 & 3 Kurzgeschichten / J. Schön. München, 1999. S. 12.

[29]Публикуется по рукописи.