Es ist wie immer:
Da sind natürlich wieder jene gewissen Litertatur-Liebhaber, die keine anderen neben sich dulden, sowie Deutschlehrer, die ihr literarisches Reinheitsgebots beschwören.
Genau sie befürchten angesicht des hoch zu verehrenden Gesamtwerks der deutschen Dichterfürsten Goethe und Schiller sowie anderer Gut-und-viel-Schreiber wieder einmal den unmittelbar bevorstehenden Untergang der abendländischen Hochkultur.
Der typische Avantgardistensympathisant hingegen sieht im Licht am Ende des gelehrten Literatentunnels endlich wieder junge unschuldige und zugleich freche mitreissende Poesie entstehen.
Während die einen sich sorgen, der breite Strom der Epik und Lyrik könnte vergiftet werden, sehen die anderen eine klare Quelle namens Twitteratur sprudeln, die sich auf wenige, aber entscheidende Worte zu beschränken vermag.
Auf jene 140 Zeichen begrenzt zu sein, würde sich das so lesen:
Literatur muss nicht viele Worte machen.
Mit kurzen und treffenden Sätzen kann sich Wort-Kunst auch aufwerten. –
Und jetzt stehen immerhin noch 33 Zeichen zur freien Verfügung. Da könnte fast schon Geschwätzigkeit drohen.
Wirklich gelungene Aphorismen mit knappen gehaltvollen Aussagen vermögen immer schon für ganze Romane und Geschichten zu stehen.
Und japanisch lyrische Kurzformen rufen mit wenigen schlichten Wortskizzen in fantasiebegabten Leserinnen und Lesern mächtige und stimmungsvolle Bilder hervor.
Ein Autor, der seine Wortkunst beherrscht, wird auch mit 140 Zeichen das ausdrücken können, was seine Leser begeistern und zum tieferen Nachdenken anregen kann, zumal er durch die Kürze aufgefordert ist, seiner Kreativität die Sporen zu geben.
Aber wer verlangt denn, dass die ersten 140 Zeichen gleich einen abgeschlossenen Krimi oder einen historischen Roman aufweisen. Deren Fortsetzung könnte durchaus im nächsten und übernächsten Zeichenkontingent stecken.
Im übrigen erreicht, wer sich auf Kunstpausen versteht, wer beredt zu schweigen oder in wenigen Worten viel anzudeuten vermag, stets wesentlich mehr als ein nichts sagender Vielschwätzer.
Damit will ich allerdings nicht zugleich behaupten, Twitter sei kein geschwätziges Medium.
Im Gegenteil es wird erstaunlich viel Alltägliches und Langweilendes gezwitschert, denn natürlich lassen sich mit jenen wenigen Zeichen auch nichts sagende Sprüche, Zitate und Klischeés absetzen, die selbstverständlich auf die ewige Internet-Müllhalde gehören.
Doch auch das unterscheidet Twitteratur nicht unwesentlich von Werken jener zahlreichen Autoren, die sich selbstgefällig für literarische Koryphäen halten.
Ansonsten steht die Twitteratur noch am Anfang ihrer literarischen Karriere. Und immerhin kann sie erheblich mehr als mit wenigen Kürzeln ihrem Empfänger mitteilen, dass man/frau ab jetzt miteinander gehe oder die plötzlich aufflammende Liebe schon wieder deutlich an Leuchtkraft verloren habe.
Ein twitterarisch begabter Poet hätte das mit 140 Zeichen weniger schwatzhaft, wesentlich einfühlsamer und dennoch unverkitscht romatischer hinbekommen.
Es lebe die Liebe (zur Twitteratur)!
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Anmerkung der der Redaktion: Gerne verweisen wir in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Vorruhestandswahn, von Karl Feldkamp. Erschienen bei Satzweiss.com – Chichilli-Agency, 2011
Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.
Weiterführend →
Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.