Meine Wut im Bauch

Zur Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014

Neulich in den TV-Nachrichten kurz ein Bild: eine Phalanx von Polizisten mit ihren Schildern, davor eine protestierende wütende Menschenmenge. Schnitt. Ein anderes Bild: Polizisten prügeln wahllos und unkontrolliert auf wehrlose Menschen ein, treten sie mit Füßen, zerren sie zu bereitstehenden Einsatzfahrzeugen, stoßen sie hinein. Sprecher: „Favelas in Rio de Janeiro werden geräumt, über 5.000 Menschen werden abgesiedelt“. Die Menschen werden weggebracht; ihre armseligen Hütten, Notunterkünfte, Elendsquartiere (ohne Wasser und Strom) werden vernichtet. Weithin sichtbare Armut soll aus dem Blickfeld verschwinden. Die Touristen aus der ganzen Welt, die zur Fußballweltmeisterschaft kommen, die als Devisenbringer erwartet werden, soll der Anblick von Not und Elend nicht stören. Soziale Probleme soll man nicht sehen. Brasilien soll sich als fortschrittliche Industrienation, als Wirtschaftsmacht und als lebenswertes Land präsentieren. Die Wahrheit soll man nicht sehen, die Wirklichkeit dieses Landes nicht erkennen können, sie soll unsichtbar gemacht werden. Die häßliche Wahrheit, die nackte Wahrheit soll die Begeisterung für den Fußball – Volks- und Nationalsport Brasiliens – nicht stören. Brasilien – das ist Fußball. Damit und dadurch genießt das Land Ansehen in der Welt. Alle bewundern den brasilianischen Fußball, den x-fachen Weltmeister, kennen und lieben die Großen des Fußballs. Und so wird es auch in diesem Jahr bei der Weltmeisterschaft sein. Da wird man auf dieses Brasilien schauen, auf dieses Fußball-Brasilien. Die Staatspräsidentin wird mit ihrem Gefolge und den ausländischen Polit-Honoratioren im Ehrensektor des Stadions sitzen, im VIP-Bereich wird man genußvoll köstliche Häppchen zu Sekt genießen, man wird sich zuprosten, einander zulächeln, sich händereichend der gegenseitigen Freundschaft versichern, der Freundschaft zwischen Brasilien und allen Ländern dieser Welt. Denn: Fußball verbindet! Und man wird das alles großartig finden. Brasilien wird ein leuchtender Stern sein, nicht nur am Fußballhimmel dieser Welt. Naja, so könnte, ja so wird es wahrscheinlich sein. Und das ist dann eben auch eine Wirklichkeit, eine geschönte, verlogene, manipulierte; eine Fassade, die man als Paravent aufbaut, damit man die andere Wirklichkeit, die Wahrheit dieses Landes, die wahren Probleme dieses Staates und seiner Mehrheitsbevölkerung nicht sieht. Und alle Sportjournalisten werden weltweit von dieser großartigen Fußballweltmeisterschaft berichten, von diesem Glanz, der alles überstrahlt. Und die Menschen werden in den eigens für diese Weltmeisterschaft gebauten (und dann kaum mehr verwendeten) sündteuren Stadien begeistert die Spieler anfeuern, sie werden schreien, jubeln, klatschen und patriotisch sein. Und Millionen von sportbegeisterten Menschen auf der ganzen Welt werden diese Spiele im TV verfolgen, jeweils 90 Minuten unter Hochspannung stehen, verzückt, begeistert, wütend oder enttäuscht sein. Auf jeden Fall geben diese Spiele wieder einmal Anlaß, in hoher Emotionalität außer sich zu sein. Die Fußballweltmeisterschaft wird ein Fest für die Welt sein. „Panem et circenses!“ war schon immer und ist seit zweitausend Jahren die Parole, die Metapher, die bedeutet: Heraus aus der Wirklichkeit und hinein ins Spiel! Dieses deckt die Wirklichkeit, deckt die Wahrheit zu. So war es auch vor kurzem bei der Winterolympiade im russischen Sotschi. „Nur der Sport zählt jetzt und sonst nichts!“ sagte ein österreichischer Funktionär; und alle stimmten zu. Kurz darauf die Toten dann in Kiev, die Annexion der Insel Krim. Putins wahres Gesicht: jetzt nicht mehr lächelnd. Er meint es ernst, der neue Zar, der ehemalige KGB-Genosse-Offizier der ehemaligen Sowjetunion, von allen „als lupenreiner Demokrat“ (Schröder) stets hofiert. Hier geht es ja um Weltpolitik und nicht um Menschen.

Da spüre ich jetzt meine Wut im Bauch. Muß sich denn alles immer wieder wiederholen?! Wem wird da stets genommen und wem wird da noch dazugegeben?! Da prügelt man auf Menschen ein, die man dann irgendwohin verfrachtet. Da fahren nachts im Dunkeln vermummte Sonderpolizeieinheiten durch die Siedlungen am Stadtrand, Personen werden mitgenommen und irgendwohin verbracht. Wohin? Und was geschieht mit ihnen? Und schlafende Straßenkinder, am Tage bettelnd, werden abgeschossen wie die Hasen. Da herrscht nicht Recht und Ordnung, da gibt es nur Gewalt und Tod. Staatsterror gegen Wehrlose, gegen die eigenen Bürger. Da wird der Staatshaushalt kaputtgemacht, da nimmt man halt Kredite auf, die alle dann bezahlen müssen. Da baut man Stadien auf und baut den Sozialstaat ab. So schafft man neue Armut und Probleme. Doch mit Zynismus schafft man die Probleme aus dem Weg. Man ignoriert ganz einfach alle Argumente und auch die Demonstrationen Hunderttausender, die gegen diesen Fußballweltmeisterschaftswahnsinn protestieren. Denn dieses Land Brasilien braucht anderes als diese sich glorifizierende Selbstdarstellung. Es braucht Reformen! Geld für die Bevölkerung, für einen Staat, dem seine Menschen nicht egal sind. Es ist ein Wahnsinn, die ohnedies schon knappen Ressourcen so zu verschleudern; für diese Fußballweltmeisterschaft anstatt für Kindergärten, Schulen und Spitäler, für Wohnbau und Kanalisation, für die Einbeziehung der Ausgebeuteten und Ausgegrenzten, für die in bitterer Armut lebenden Menschen. Nein, kein Kniefall mehr vor all den Superreichen, vor dem Kapital. Nein, keine Duldung mehr, jetzt Kampfansage, Aufbegehren, Widerstand, Organisation der Massen! Der Mensch, ein jeder Mensch, hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben! Und dieses Recht zählt mehr als jede Fußballweltmeisterschaft und jede hoheitsvolle Staatsrepräsentanz. Die Wahrheit gilt und nicht die Lüge! Doch da steht die protestierende Menschenmasse vor der Mauer der Uniformierten mit ihren Helmen, Schildern, Gummiknüppeln. Und diese Polizeisondereinheiten werden den Staat verteidigen, gehorchend jeder Staatsmacht und stets auf Seiten dieser; und nicht auf der Seite des Volkes. Stets stehen sie einander gegenüber: die Staatsmacht und das Volk. Ein Hohn zu sagen: Demokratische Republik! Nein, das ist die Herrschaft der einen gegen die anderen, der Staatsmacht gegen das Untertanenvolk. Das ist nicht gelebte Demokratie. Das ist Staatsmacht-Diktatur. Und so ist es noch in vielen Ländern dieser Welt. So war es immer und so wird es immer sein. Oder etwa doch nicht? Was wäre denn die Lösung? Revolution? Und wo führt dann diese hin? Zu einer neuen Diktatur?

Doch Hoffnungslosigkeit gilt nicht, Aufgeben ist keine Alternative. Resignation ist keine Haltung, sie ist indiskutabel. Wir müssen an die Möglichkeit einer Veränderung glauben und alles dafür tun. Und Widerstand muß sein! Als erstes unser Widerspruch. Verdammt, ich habe eine solche Wut im Bauch! Ich werde wütend, wenn ich solche Bilder sehe wie gestern im TV. Und dazu so mickrige Kommentare, im Ton nicht anders als beim Wetterbericht, wenn man am Schluß beiläufig sagt: „Ja, morgen wird es regnen.“ Österreichische Berichterstattung. Journalismus. Medienpolitik. Wo steht denn unser Land, auf welcher Seite? Ach so: Wir sind neutral, wir haben ja in allem neutral zu sein. Und nichts soll unsere Freude am Fußballspiel, am Sport je stören. Wir freuen uns auf diese Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Das werden schöne Sommerabende vor dem Fernsehgerät, mit Bier und Brötchen. Und dann am nächsten Tag die Zeitungen voll mit wunderbaren Bildern und Kommentaren zum Spiel des vorigen Tages. Und vielleicht wird auch der Bundeskanzler lächeln. Und der Bundespräsident sich freuen. Österreich wird ja als Spieler nicht mit dabei sein; aber wir werden Däumchen drücken voll Begeisterung für irgendwen. Und viele werden sagen, wie großartig doch die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien ist/war, wie großartig doch dieses Land Brasilien ist. Nur die Entrechteten, die Mißachteten, die irgendwo Verschollenen, die werden schweigen.

***

 

 

Weiterführend →

Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.

Brasilien: fünftgrößtes Land der Erde. Der Staat: Föderative Republik Brasilien / República Federativa do Brasil. Lage: Südamerika. Fläche: 8,511.965 km². Einwohner: ca. 200 Millionen; jedes Jahr um ca. 3 Millionen Menschen mehr. Politik: Präsidentielles Regierungssystem, Bundesrepublik, Konstitutionelle Republik. Staatssprache: Portugiesisch. Hauptstadt: Brasilia. Industriestadt: São Paulo. Bekannteste Stadt: Rio de Janeiro. Assoziation: Samba tanzende, wunderschöne, fast nackte Frauen beim traditionellen Faschingsumzug. Wahrzeichen: der „Zuckerhut“ mit der monumentalen weißen Christus-Statue mit den ausgebreiteten Armen auf einem Hügel über der Stadt. Ansonsten: Regenwald am Amazonas (25% zerstört), das größte Waldgebiet der Erde, wichtig für das Klima auf unserer Welt. Darin die letzten Indios lebend mit ihrer durch die „Zivilisation“ von der Zerstörung bedrohten Kultur und der physischen Ausrottung. Grenzenlose Profitgier einer oligarchischen Oberschicht. Ausgebeutete, in größter Armut (in Favelas) lebende Menschen der breiten  Unterschicht. Etwa 50% weiße Brasilianer, ca. 43% Mischlinge, ca. 6% Schwarze sowie andere Ethnien und Gruppen. Indigene Bevölkerung: über Jahrhunderte hindurch ausgerottet, ca. 400.000, also ca. 0,2 % der Gesamtbevölkerung übrig geblieben, davon leben 50% „zivilisiert“ in den Städten. Religion: 94% Christen (davon ca. 90% Katholiken und 6 % Protestanten sowie andere), 150 Universitäten mit mehr als 2,5 Millionen StudentInnen. Höchste Kriminalitätsrate der Welt: Jährlich sterben allein etwa 35.000 Menschen durch Mord und Totschlag. Die Polizei ist äußerst korrupt und gewalttätig (systematische Straßenkinder-Ermordungen in den Städten). In der Vergangenheit zeitweilige Militärdiktatur; ebenso eine Hyperinflation (bis zu 400% im Jahr, insgesamt mehr als 1.100 %). Im Jahr 2014 Fußballweltmeisterschaft, 2016 Olympiade. Hohe Kosten ohne Investition mit Nachhaltigkeit. Massenunruhen, Streiks. Brutale Niederschlagung durch Militär und Polizei. Präsidialdiktatur.

(Quellen: Harenberg Kompaktlexikon, 1994; Diercke-Länderlexikon, ca.1990; Internet)