Seit 1983
gibt Axel Kutsch Jahr für Jahr Lyrikanthologien heraus, die in ihrer Gesamtheit die Bandbreite der Lyrik im deutschen Sprachraum vermitteln und jeweils umfassende Einblicke in das vielgestaltige zeitgenössische Lyrikschaffen der Jahre vor und nach 2000 ermöglichen. Der Eindruck, den ich, beispielsweise, bei der Lektüre von Versnetze_fünf gewinn: Unbeugsam scheint der Überlesenswille des urigen Lyrikvölkchens im bildwild zerklüfteten deutschen Sprachraum angesichts der weiterhin ansteigenden Buchflut zu sein, in der sich Millionen Versfüße tummeln. Ach Gott, schon wieder Gedichte, hör ich Peer Quer, den feinen kleinen Freund, Mrs Columbo ins Öhrchen flüstern, als er Versnetze_fünf auf dem Tisch liegen sieht. Aber, aber, meine Dame, mein Herr: ›Gedicht‹ und ›Gott‹, das geht doch, glaub ich, immer schon ganz gut zusammen, oder – etwa – nicht: ogottogott, weiß schon Ernst Jandl mit traumatischen Pfunden zu schummeln.
Und, schwups, les ich bei Lutz Rathenow: Darf Gott göttlich sein? Tja, ich weiß nicht, was, Gott, hilf mir, soll es bedeuten, wer lacht hier / hat gelacht? Jedenfalls hab ich Lunte gerochen und folg, heiß auf Erkenntnis, schwindlings der Schweißspur, that is blowing in the wind (bin nicht bloß Lyrik-, nein, auch Kriminaltango-Fan), und les, die Nase millimeternah am Blatt (was, in erster Linie, wohl mit der sieben Jahre alten – keineswegs rosaroten – Brille zu tun hat) weiter und stolpre, mich flott bei Caroline Hartge einhakend, über verdammt gottverlassene straßen, wo irgendwo ein erwogenes gottes geschenk – einfach so (oder ›so‹) etwa? – herumliegt.
Sieh da, sieh da, kaum erst hab ich mich, von der launischen Stimmung des Augenblicks bezirzt (»Eigentlich könnte jedes Gedicht / den Titel ›Augenblick‹ tragen« ∙ Wisława Szymborska), auf die ›göttliche‹ Wortspielspannung eingelassen, schon werd ich von Versen weiter gegängelt, treff nochmals auf das Wörtchen ›gottverlassen‹ – bei Christoph Leisten ist es dieser eine gottverlassene clochard, der sich, kommt durchaus un/gelegen, verwegen in den Kontext schlängelt, und folglich alles bestens mithin.
Schaun wir, wie es vorwärts – Stückwerk? weltwärts? (Halt!) – geht, ach, seht, dort steht schon bald Marianne Ullmann hilfsbereit am Wegrand (winkend): Vom Himmel aus Landschaftstextur / als Lesart von Gott – ja, Menschen, die Gedichte schreiben, sind stets und immer Alteregoisten, lassen drum die Leser nie bedröppelt klamm im Regen stehn: Gott sei Dank – schreibt jedenfalls Gisela Noy.
Was hör ich? Gott redet mit dir dauernd im Park (Francisca Ricinski), und ist das nun gottes gnadenwillkür, wie Karl Rovers in den Raum stellt? (Mit gottesdienstlicher erneuerung hat es jedenfalls rein gar nix zu tun, wie ein paar Verse weiter zu lesen ist.) Ich laß die letzte/n Frage/n hier einfach mal: offen, ruf, mit Scardanelli: Komm! ins Offene, Freund!
Jetzt aber, du lieber mein Gott noch: darf es ein wenig / ohne Gott sein, wirft Elke Böhm, ziemlich hinterforschig, ein, was mich ein bißchen doch verstört (oder hab ich mich – verhört?), hab mich doch grad so gut ›eingerichtet‹ im Versnetzleben, nix scheint einem heutzutag vergönnt, was sind das, o Gott, für Zeiten, sprecht! (»Keine hört mich, alles stille. Also ist es Götterwille«, hör ich Papageno jammern.) Also weiter, immer weiter, ach, um gotteswillen, schnapp ich bei Wolfgang Haenle auf, denn das Gottvertrauen, das noch immer entzifferbar ist (Fritz Deppert) in diesen Versen, führt mich schnur und stracks zu Richard Dove, der mir zeigt, wo Gott hockt: Südlich der Stadt, / wo Gott einst studierte.
Wer hätte das gedacht, aber so sind’s halt, die Gedichte, immer für die eine und auch schon mal die andere Überraschung gut (in einem las ich vor ein paar Jahren, wie nicht die Titanic, nein, nein, der Eisberg unterging, und wenn das nun keine gottgewollte Fügung ist, dann glaub ich, wohl wahr, an gar nichts mehr), jedenfalls: Keiner weiß nie, wie sie denn wo aus- oder untergehn, und so sind auch diese Lyrik-Sammelbände fabelvolle FlunderWunderZundertüten – knallprallvoll mit Götterduft und Nabelschau (liegt hier ein Spötter in der Luft?), die Seit um Seite, Blatt um Blatt … am besten, Sie lesen wieder (siehe oben) selbst.
Joseph Buhl aus Gottmannshofen besingt den Abend des Goldtons, was, bei rechtem Lichte betrachtet, unvergleichlich göttlich klingt, wann wird man je verstehn? Hoppla, du hast einen gott / übersprungen, neckt Hartwig Mauritz (sein Wort in Gottes Ohr?), ich blättre zurück, find: nichts, ist das eine lyrische Finte? (Steck ich in der Tinte?) Will Autor mich auf Reimspur locken? Geht das nicht: ›Gedichte rocken‹? Kann auch als Leser ich mich verzocken?
Ich laß das mal, um Gottes Himmels willen, dahingestellt sein (einmal muß es vorbei sein), werd jetzt, überhitzt, auf Wiedersehn rufend, einfach ein bißchen chillen gehn – in Maximilian Zanders Lichtspieltheater (Sperrsitz zwischen Jim Carrey und Morgan Freeman):
Nur ein bißchen Kino Die meisten Esser lassen ihren Nachtisch stehen. Die älteren Männer sehen entschlossen aus, aber nicht zuversichtlich. Die Hände der Frauen streichen jetzt ständig über Kinderscheitel. Plötzlich gibt es mehr Kinderscheitel in der Stadt als je zuvor. Die Physiker rechnen mit allem. Kommissionen werden gebildet. (Wo kommen die Schlangen her?) Komisch, es gibt keine Staus. Man ist auf Vermutungen angewiesen. Beispiel: Gruppen von Achtklässlern, ausgerüstet mit nanobots, klingeln an Haustüren; danach sind alle Abfalltonnen voll; vieles sieht seltsam aus. Indizien. Ja, hätte man rechtzeitig die privatrechtlichen … und die share holder … singt der Chorführer. Zu spät, antwortet der Chor. Jeder wird sich bei jedem einklinken, Mensch und Maschine werden verschmelzen …* Das ist das Mindeste – Werden Sie ruhig ein bißchen wahnsinnig, sagt der Doktor, nützen wird es nichts.* zitiert nach einem Interview (1999) mit Ray Kurzweil, Erfinder, Wissenschaftler und Unternehmer.
Wieder einmal
stochert Axel Kutsch aus dem Bergheimer Tiefland ins 555 Meter hoch gelegene Sistiger Hinterland – Wildschweinen, Nebel, Gewitter, Sturm und weiteren natürlichen Unwegsamkeiten zum Trotz. Er bringt die in jener Woche aus der Druckerei gekommene Lyrikanthologie Versnetze mit, ich geb ihm Exemplare der Literaturzeitschriften orte und Zeichen & Wunder, wir hörn Schuberts erste und zweite, später die fünfte, siebte und achte Sinfonie, rauchen Zigarillos auf der Terrasse, gehn durch den Garten: ›Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt‹, spricht das arabische Wort, Kutsch staunt über die beiden Hexenringe in der Wiese und die Menge kleiner und großer, runder und eckiger Steine, die ich auch während der vergangenen Monate bei Gängen durch Felder, Wiesen und Wälder gesammelt und zu gebirgsbachähnlichen Gestalten gefügt hab, wir laufen bis zum Waldrand, sichern Spuren bei Blitzlicht und Gegenwind, holen uns im grasüberwachsenen Graben nasse Füße, genießen anschließend selbstgebackenen Pflaumenkuchen und sprechen wie immer bloß, weiter Wortspuren sichernd, über DAS EINE (das bei uns die Gesamtheit der Literatur umfaßt, also Dramatik, Lyrik, Prosa, so daß wir auch über jüngst gelesne Romane von Anna Katharina Hahn, James Joyce, Terézia Mora, Kathrin Schmidt reden) das uns seit über 20 Jahren verbindet. Na ja, vor gut 20 Jahren fängt das alles ja gar nicht sooo pflaumenkuchenrund an. Was heute eine Freundschaft ist mit allem Pipapo, beginnt seinerzeit als – Mißverständnis?
Ein gemeinsamer Bekannter macht mich 1989 auf den Herausgeber Axel Kutsch aufmerksam, von dem ich bis dahin noch nichts gehört habe. Wie auch? Ich hab im Herbst 1983 mit Schreiben begonnen – es wundert vielleicht manchen Leser, daß ich in den Jahren 1983 bis 1987 fünf Romane ›für die Schublade‹ geschrieben hab – und 1988 auf Drängen des in Blankenheimerdorf lebenden Künstlerfreunds Gunter Lorenz den ersten Lyrikband – Eifeleien – herausgebracht (im Selbstverlag, da ich in jener Zeit keinerlei Kontakte zur Welt der Literatur hab und auf keinen Fall unverlangt ein Manuskript an einen Verlag geschickt hätt, diese Vorstellung ist mir immer schon absurd vorgekommen).
Die eine Anthologie, von der ich damals weiß, die ich seit 1977 besitze und in der ich natürlich immer wieder mit Begeisterung les, ist Das große deutsche Gedichtbuch, das 2008 mit dem neuen Titel Der Große Conrady zum vierten Mal herausgegeben wird. Daß seitdem in diesem Standardwerk Gedichte von mir zu lesen sind, wundert nun mich wiederum (vor allem aus der Perspektive früherer Lebensphasen betrachtet) genauso wie die Tatsache, in mittlerweile 22 von Axel Kutsch herausgegebenen Lyrikanthologien vertreten zu sein. Denn, wie gesagt, am Anfang, 1989, holpert es: Ich schick Kutsch auf Anraten des Bekannten einige Gedichte für den geplanten Sammelband Wortnetze I – mein erster Versuch überhaupt, in einer Anthologie zu landen – und warte danach genauso zuversichtlich wie vergeblich auf positive Antwort in Form eines Belegexemplars, das ich dem Postboten hocherfreut aus der Hand reißen will.
Monate vergehn, bis ich dem gemeinsamen Bekannten, kummervoll ob des nie erfüllten Wunschtraums, das Herz ausschütt. Er fragt kurzerhand und ohne mein Wissen bei Kutsch nach, der meine Gedichte wohl eher zufällig noch nicht weggeworfen hat – die Anthologie ist längst erschienen – und mir freundlich mitteilen läßt, er hätte mich schon berücksichtigen können (hätte, hätte …), aber es gebe stets zu viele Einsendungen, ich solle mich nicht entmutigen lassen und es im nächsten Jahr wieder versuchen. J Im nachhinein bin ich froh über die Verzögrung, bekomm ich so doch die Gelegenheit, den Blick auf Wort und Vers weiter zu schärfen und unverdrossen an dem zu arbeiten, was lebenslang Obsession des Gedichte schreibenden Menschen ist.
Wortnetze II
heißt die 1990 erschienene, Hans Bender und Rolf Dieter Brinkmann gewidmete Anthologie, die die erste Anthologie überhaupt ist, in der Lyrik von mir erscheint: Auf Seite 111 stehn die beiden Gedichte, gleichsam potenzierte Schnapszahl, der Frohsinn kann also auf den frostig eifelnden Höhenzügen des Rheinlands seinen Lauf nehmen. Auch heut freu ich mich, wenn ich mit einem Beitrag in einem interessanten Sammelband vertreten bin, aber das ist kein Vergleich zum damaligen – grenzenlosen – Jubel: Ich kann es kaum fassen, hier neben Größen wie Hans Bender, Rolf Dieter Brinkmann, Erich Fried zu stehn, juchhu. Viele Autoren kenn ich nicht, und die Mehrzahl von ihnen treff ich seit Jahren nicht mehr in Lyrikanthologien an. Es ist ein Kommen und Gehen in der Welt der Literatur – ganz wie im richtigen Leben.
Etwas differenzierter betrachtet, denk ich, daß die späten achtziger und die frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch in der Lyrikwelt Wendezeiten sind: Abgesehn von auch während der 60er und 70er Jahre fortlaufend auf hohem Niveau schreibenden Marathonpoeten wie Volker Braun, Beat Brechbühl, Hans Magnus Enzensberger, Elke Erb, Walter Helmut Fritz, Ernst Jandl, Wulf Kirsten, Karl Krolow, Friederike Mayröcker, Christoph Meckel, Oskar Pastior und manch andrer mehr, ich denk an den Monolithen Rolf Dieter Brinkmann, aber auch an Nicolas Born und Jürgen Theobaldy, beginnen nach Jahren der eher laueren Winde die Gedichte wieder höhere Wellen zu schlagen, und viele Stimmen, deren Originalität und Qualität den nun deutlich ansteigenden Erwartungen, von Vorkämpfern wie Thomas Kling, Bert Papenfuß, Durs Grünbein d. J. unmißverständlich manifestiert, nicht standhalten, verschwinden auf Nimmerwiedersehen im Orkus der schwarzen Lyriklöcher.
Seit 1990 also hat Axel Kutsch regelmäßig von mir verfaßte Gedichte veröffentlicht und gehört damit zu den entscheidenden Förderern meiner Lyrik. Von Jahr zu Jahr wird unsere Beziehung intensiver, wir beginnen, einander unveröffentlichte Gedichte zu zeigen, antworten mit Gedichten auf Gedichte, schreiben einander im Verlauf der 90er Jahren zahlreiche Briefe, die nach 2000 von den zahllosen E-Mail abgelöst werden, Besuche werden von Jahr zu Jahr regelmäßiger, so daß Axel seit vielen Jahren zur Familie gehört, was nicht nur Birgit, Andreas, Anna, nein, auch Bensch, Mrs Columbo, Kraus und Peer Quer sehr zu schätzen wissen.
Jeder Autor weiß, wie wesentlich es (nicht nur) für die literarische Laufbahn ist, auf Menschen zu stoßen, die es zum einen gut mit einem meinen, zum anderen die professionelle Distanz wahren, wenn es um ›Probleme der Lyrik‹ geht. Die Literaturgeschichte ist durchzogen von beredten Beispielen fruchtbarer Freundschaften unter Literaten, die einander auf Augenhöhe begegnen und guten Einfluß auf das Werk des anderen nehmen. Das Grundgesetz vom einsam vor sich hin Dichtenden wird auf diese Weise regelmäßig außer Kraft gesetzt.
Als Kutsch 2002 mein Manuskript Land Stadt Flucht lektoriert, herrscht diese Grundstimmung genauso vor wie im umgekehrten Fall, als ich den Gedichtband Stille Nacht nur bis acht durchseh. Da treffen sich Grundeinstellungen, die einander sehr ähnlich sind: Gedichte, die nicht vollständig die Erwartungen erfüllen, lassen wir lieber außen vor. Und wenn’s nur ein Wort ist, das nicht stimmt: Das Gedicht (dessen verworfne Wörter zum Gedichtkern gehören wie die eingedachten hinter den eingebrachten) muß warten, bis ›das Wort‹ gefunden ist, was im Einzelfall lange dauern kann – und gar nicht so selten wird es nicht gefunden: Ein Gedicht schreiben heißt auch, es nicht zu schreiben.
Immer wieder ist Axel Kutsch mehr oder weniger erster Leser meiner Essays und Gedichte, vermittelt wertvolle Hinweise. Daß Einschätzungen dabei auch auseinandergehn, ist genauso selbstverständlich wie die Tatsache, daß meine Zusammenstellung von Anthologien naturgemäß anders aussähe und ich nicht unbedingt die Autoren bzw. Gedichte auswählen würde, die Kutsch in die Sammelbände aufnimmt, und daß ich Autoren vermisse, von denen ich denk, ihre Gedichte hätten der Anthologie noch gutgetan.
Am Subway Miasmengewölk – Magma am Grund des Geklüfts für schüttere Zeit scheppernde Notgroschen im Pappteller rafft der Dichter – Manfred Peter HeinBeim Lesen reiß ich plötzlich die Augen untertassengroß auf, bad in Wörtern, es sind die Wörter, denen ich lesend oder schreibend auf der Spur bin, die Wörter, der Sound, die Schwingungen, zieh Sekunden später die Stirn kraus, jubilier, um mir kurze Zeit später lauthals Luft zu machen. ABER: Es ist Axel Kutschs Auswahl, nicht meine, nicht Hans Benders, nicht Michael Brauns, nicht Christoph Buchwalds, nicht Karl Otto Conradys (Keine Anthologie vermag alle Erwartungen zu erfüllen), nicht Harald Hartungs, nicht die von Shafiq Naz oder Tom Schulz, nicht Hans Thills, nicht Jan Wagners, nicht Björn Kuhligks, nicht Ron Winklers, nein, es ist seine, Axel Kutschs ureigene Auswahl, die Entdeckungen und Lücken zeitigt wie jede lebendige, kenntnisreich edierte Anthologie – die immer auch Appetitanreger für die andere Anthologie (in der ich prompt auf die Namen stoß, die ich eben noch vermiß) und vor allem die Gedichtbücher der frisch entdeckten Autoren sein will. Lyriksammelbände, gerade von heut, in diesen Zeiten krasser Unübersichtlichkeit, können nur exemplarisch sein – bei aller selbstverständlichen Offenheit, die im vorliegenden Versnetzfall nicht genug betont werden kann.
Die 31
bislang von Axel Kutsch herausgegebnen, im Lauf der Jahre immer vielgestaltiger edierten, mehr und mehr unterschiedlichste Stimmen verschiedenster Altersstufen, ›Lager‹, Nischen, Regionen präsentierenden Anthologien wirken wie Assemblagen, die ich als lyrische Einheiten mit vielfältigen Topographien rezipiere. Natürlich kann ich mir das einzelne Gedicht, um das es in erster Linie geht, wie die eine tiefschwarze Kirsche aus dem übervollen Baum herauspflücken, aber die Gesamtrezeption während der jeweils eintägigen Lyriksauftour erlebe ich dermaßen berauschend und bewußtseinweitend, daß es zur Sucht geworden ist, so lange weiter, immer weiter zu lesen, bis die Buchstaben, feine Fischlein, vor den Augen zu schwänzeln, zu tänzeln beginnen.
In den ausgewählten Gedichten, die augenbetäubend, bitter, chiffriert, dunkel, entrückt, flirrend, gleißend, hölzern, intensiv, jovial, krüppelig, laublau, mehrsprachig, nackt, offen, pastellgelb, quer, ratternd, strafzettelblau, tot, ungeladen, violett, welk, x-beinig, ybel, zaunbraun aussehn, daherkommen, klingen, riechen, schmecken, sprechen oder wirken, zerrt der Anthologist mich durch wortübersäte Boulevards und silbengespickte Feldwege, hypoparataktisch angelegte Verbalstraßen und tiefgehende Sinnschächte, durch Sprachschluchten, in denen ich durch Vokabelgeröll und Wörterschnee wate, der fällt in großen flocken in mein innenohr – durch die lüfte energie sparen les ich übergangslos und denk unvermittelt: Von wegen! In zwei Gedichten muß ich dem Weltraumschrott ausweichen, will ich nicht von den Wörtern vernichtet, vom Schmutzengel in das grenzenlose All des Universums gerissen werden. Hinter den biegsamen Deckeln dieser unscheinbaren Buchobjekte, die doch lediglich Sammlungen deutschsprachiger Lyrik der Gegenwart beinhalten, verbirgt sich eine enorme, spektakuläre, ungeheure Verdichtung an Energie, die von mir in ihrer Gesamtheit kaum zu erfassen ist.
Lies halt weiter, flüstert mir der österreichische Freund Karl Natiesta ins Öhrchen, genauso wie er damals am Attersee lauthals Spring halt rein posaunt, als ich mein, das Wasser sei aber doch sehr kalt. So les ich ›halt‹ weiter und stoß am End auf Gedichte von Hans Eichhorn, der, dem Kälterwerden und den leeren Parkbänken trotzend, am Attersee lebt und schreibt: Karteileichen und Aluminiumsessel, / das fügt sich zu keinem Kurzschluß.
Nachts bei Vollmond kannst du es mitunter hören in den hohen Bibliotheken dieses leise Knarren und Quietschen wenn einer die Welt aus den Angeln hebt und die Tür nicht wieder zukriegt. Ulla HahnDas Spektrum der einsilbig oder kakophon, fest- oder freimetrisch, klar oder geheimnisvoll, gereimt oder ungereimt, überhitzt oder unterkühlt, ernst oder ironisch, herb oder sanft, lässig oder forciert formulierten Gedichte in diesen Zeiten der nur noch ganz kleinen Verschiebungen, reicht vom herkömmlichen Strophengedicht zur experimentellen Collage und visuellen Bricolage, vom Anagramm übers Leipogramm zum Paragramm, vom Kreuzgereimten zum Alltagsparlando, vom Haiku übers Akrostichon zu Ode, Sestine, Sonett und Terzine, vom Epigramm zum Sprichwort, vom Vierzeiler zum Erzählgedicht, vom lyrischen Stimmungsbild zum antilyrischen Wortschwall, von politisch grundierten, mit suggestiven Botschaften garnierten Versen zur privaten Poesie für öffentliche Ohren, vom hermetischen zum offenen Gedicht, vom Block- zum Flattersatz, von der assoziativ verketteten, überbordenden paradox-skurillen Phantasmagorie zur (Realität verfremdenden) lakonischen Inventur, vom Popgedicht zum ätherischen, vom ungelegnen Vers zum Gelegenheitsgedicht, von der notgebornen Attacke zur müßigen Besinnung, vom rotzigen zum erhabnen Ton, von Allegorie über Metonymie, Metapher und Emblem zum Symbol – oder bewußt davon befreiter Lyrik, vom Nonsens zum Tiefsinn, von reiner Lyrik über Metalyrik zum didaktischen Lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige Metapher rankenden Gedicht zur hektischen, übers ganze Blatt verlaufenden Montage, vom Stakkato zum Geschmeidigen, vom surrealen Purzelbaum übers Dissonante zum Volksliedhaften, von der urbanen Häuserzeile zur rustikalen (zeitgemäß fragmentierten) Sumpfdotterblume.
Manches erscheint mir, in Augenblicken der Ungeduld?, geschwätzig, macht sich breit auf der Seite, labert und wabert schier endlos fort, ich brech ab oder les es, jetzt erst recht!, ein zweites, drittes Mal, andres kommt einfach, karg, schlicht daher, zwischendurch darf ich sogar einmal grinsen, lachen, schmunzeln, hier und dort find ich flüchtige, fragmentarische, unfertige Versuche vor. Der Herausgeber Kutsch vertritt die Auffassung, daß eine Lyrikanthologien auch ›Talentschmiede‹, ›Versuchslabor‹ sein darf, kann, soll – die ausgereiften, geglückten, originellen Gedichte in Versnetze (›unerhörte‹ Verse, bei deren Lektüre mir der Atem stockt – wie etwa Paul Celans Du liegst im großen Gelausche – find ich selten bloß vor), in denen ich auf gute, nachhallende oder phantasievolle Wörter wie Arbeitsschuhe, Brombeere, Chimäre, Dachpfanne, Erinnerung, Flußpferd, Gras, Haselstrauch, Igelball, Jahresring, Kaffeedampf, Lippenpelz, Mundhöhle, Nebel, Ozeanflor, Paranuß, Qualm, Regen, Spargel, Teepolster, Unterkiefer, Verschweigen, Wind, Xylophon, Ypsilon und Zwischenraum treffe, bleiben freilich tonangebend.
Auch das grandiose Scheitern, das ich der routinierten Langeweile vorzieh, gehört dazu, ist es doch eine wesensgemäße Aufgabe lyrischer Sammelbände, Dichtung im Werden zu zeigen, die Entwicklung von Autoren zu protokollieren, die grundsätzliche Wesensform der Lyrik als word in progress augenfällig zu machen. Vollkommen wird das Gedicht – von den wenigen weltweit bekannten Würfen abgesehn – nie, ob wir es nun in Einzeltiteln oder Sammelbänden lesen.
Bewältigung entschuldigens wou is denn bidde dä Adolf-Dürer-Platz? Fitzgerald Kusz2008, 2009 und 2010
schlägt der Anthologist Axel Kutsch gleich viermal zu: An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes, Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik, Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart sowie Versnetze_drei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart stellen, exemplarisch, die farbenreiche Palette deutschsprachigen Lyrikschaffens mit bekannten und weniger bekannter Autoren aus Augsburg, Berlin, Castrop-Rauxel, Dortmund, Essen, Frankfurt und vielen, vielen, vielen anderen großen und kleinen Orten im deutschen Sprachraum dar (der jüngste, Leander Beil, ist Jahrgang 1990, der älteste, Hans Bender, Jahrgang 1919) – so, wie wir es von Axel Kutsch, dem vielleicht kenntnisreichsten Herausgeber deutscher Lyrik, seit 1983 kennen: In 31 Anthologien les ich die rasante Entwicklung und Lage der Lyrik der letzten drei Jahrzehnten nach (zwischen Gedichten der frühen 1980er Jahre und solchen von heute liegen – – – Welten) – darunter, nicht zu vergessen, die drei brillanten Anthologien Blitzlicht. Kurzlyrik aus 1100 Jahren, Reißt die Kreuze aus der Erden! sowie Der Mond ist aufgegangen, in denen sich auch Gedichte aus alten Zeiten finden.
im vorderhaus ficken die pfirsiche legt Konstantin Ames im fulminanten Auftaktgedicht zu Versnetze_zwei los (es kommt noch toller), doch gleich auf der nächsten Seite schaltet Ulrike Almut Sandig mit sehr ›schönen‹ Gedichten mehr als einen Gang zurück: eben noch radio gehört. du schaust geradeaus. der Motor macht leise geräusche. Während die Mehrzahl der Menschheit die Stubenfliege achtlos totschlägt, erweckt Rolly Brings sie in Musca domestica erst richtig zum Leben: ein dolles Ding. Bei Marianne Glaßer ist die Stille befahrbar. Franz Hodjak blendet mich mit grellem Neonlicht, jagt mir den dumpfen Lärm der Abrißbirne in die Ohren, bei Kathrin Schmidt lief eine zweifach gebeutelte asylwölfin durch die bildlichtung, bei Armin Steigenberger stehe ich im widerschein dahinbrausender endsilben.
Es ist also auch bei der Lektüre der bislang sechs Versnetze-Sammelbände wie immer: Ich will doch ›eigentlich‹ bloß ein paar Seiten lesen, stell Stunden später fest, daß ich noch nicht gefrühstückt hab. Kutsch hält, was das Vorwort verspricht: Auch diese Anthologie bietet eine spannende Übersicht über Inhalte, Formen und Schreibweisen der facettenreichen aktuellen deutschsprachigen Dichtung quer durch die Generationen und Regionen. »Gedichte, die dem Bedürfnis nach Schlusszeilen bzw. Gedichtenden widerstanden« (Uljana Wolf, Jahrbuch der Lyrik 2009) haben darin ebenso ihren Platz wie Texte, die in eine Pointe münden, das ›klare‹ Gedicht steht gleichberechtigt neben Poesie, die sich dem raschen Verstehen entzieht oder das eine oder andere Geheimnis nicht preisgibt.
NACH DEN WOLKEN: Die glänzenden Maisfelder. Pfützen, Supermärkte. Und das Lächeln der Poetin: Es ist nicht normal, Gedichte zu lesen, die man nicht versteht. Die Wolken überholen die Berge. Ein Parkhaus, das Wort. Peter KappIch hab die von Kutsch besorgten Sammelbände stets gern neben den von Christoph Buchwald ebenfalls seit Mitte der 1980er Jahre edierten Lyrikjahrbüchern gelesen. (Siehe hierzu auch das Kapitel Wir sammeln, bis uns der Tod abholt in Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000) Die beiden Anthologisten unterscheidet unter anderem, daß Buchwald, bei aller Entdeckerfreude, von der ich bei der Lektüre jedes einzelnen Jahrbuchs der Lyrik profitiere, insgesamt etwas mehr auf bereits bekannte, sogenannte ›arrivierte‹, in den Feuilletons gepriesene und mit Preisen bedachte Autoren setzt, während Kutsch besonders großen Wert darauf legt, in den abseits gelegenen Dörfern und Städtchen, Tälern und Hochlagen zu forschen, um auch den zurückgezogen lebenden originellen Autoren aus dem Hinterland eine Chance zu geben. Ich kann ein artig Lied davon singen.
Ein paar Dutzend Anmerkungen von A bis Z mögen ›abschließend‹ das eine oder andere Schlaglicht werfen auf die 31 Lyrik-Anthologien, die Kutsch in den Jahren 1983 bis 2013 herausgegeben hat. 1983 bis 2013: Das sind exakt 31 Jahre, 31 Anthologien in 31 Jahren … Wir sind also gespannt, wie es weitergeht. Mit gerade mal 69 Jahren ist Axel Kutsch noch so jung, daß wir ›getrost‹ noch manches erwarten dürfen.
Ansichten · Anzug · Augenblick · August · Auffassung · Aufbruch
ANZUG, KRAWATTE, KEIN ANZUG, KEINE KRAWATTE, Blick aus der Straßenbahn als hättest du wie eh und je nichts zu tun mit ihren Geschäften, als seist du noch immer jener fremde Blick aus heftig schaukelndem Bummelzug, sich nirgends einmischend, Unpartei, kein Gesicht, kein Name, abgestellt zwischen Umspannwerken und Warenkatalogen. Als seist du noch immer dieser Zeichenstift, der, aufs Papier gedrückt seinen Tanz vollführt, sprachlos, strichlos, mit oder ohne Krawatte, mit oder ohne Anzug, fixiert auf die beiden Bremslichter in der Nacht. Hans EichhornPro captu lectoris habent sua fata libelli – Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale (Terentianus Maurus, 2. Jh. n. Chr.), les ich in Ivo Ledergerbers 2011 im Frauenfelder Waldgut-Verlag erschienenen Gedichtband Besuch bei einem Freund. »Besuch bei einem Freund« – so mag eine Eigentümlichkeit der Lektüre des Sammelbands Versnetze_vier beschrieben sein, den ich während später Augusttage, die Seen hell, die Himmel weich, les und der mir – wie die in den Jahren zuvor erschienenen Bände – durchweg die Empfindung vermittelt, ich säß mit dem Freund zusammen und läs (bespräch) mit ihm gemeinsam die ausgewählten Gedichte, Vorzüge dieses Verfassers hervorhebend, Haken und Ösen jener Verse in Frage stellend, wobei die jeweiligen Auffassungen – entgegen des von Heidi Brühl bzw. Brings in die weite Welt hinein gesungenen Wunsches, der mir in diesem Augenblick unweigerlich in den Ohren summt – auch immer wieder einmal auseinandergehen.
Im Herbst 2014 erscheint im Verlag Ralf Liebe in Weilerswist mit Versnetze_sieben der 32. der von Axel Kutsch herausgegebenen, zumeist als Lyrikjahrbuch, gelegentlich als historische Themen-Anthologie edierten Lyrik-Sammelbände, die er bis 2007 unter den verschiedensten Titeln veröffentlicht und die seit 2008 den Titel Versnetze tragen:
1 ∙ Die frühen 80er. Lyrik und Prosa · 1983.
2 ∙ Keine Zeit für Lyrik? · 1984.
3 ∙ Lebenszeichen 84. Lyrik · 1984.
4 ∙ Gegenwind. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren · 1985.
5 ∙ Ortsangaben. Lyrik · 1987.
6 ∙ Lyrik 87 · 1987.
7 ∙ Wortnetze I. Neue deutschsprachige Lyrik · mit Michael Rupprecht · 1988.
8 ∙ Wortnetze II. Neue deutschsprachige Lyrik · 1990.
9 ∙ Wortnetze III. Neue deutschsprachige Lyrik · 1991.
10 ∙ Zehn. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en · 1993.
11 ∙ Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre · 1994.
12 ∙ Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Mondlyrik vom Barock bis zur Gegenwart · 1995.
13 ∙ Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1996.
14 ∙ Orte. Ansichten. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1997.
15 ∙ Das große Buch der kleinen Gedichte. Deutschsprachige Kurzlyrik der Gegenwart · 1998.
16 ∙ Reißt die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Revolution von 1848 · 1998.
17 ∙ Der parodierte Goethe. Neue Texte zu alten Gedichten · 1999.
18 ∙ Unterwegs ins Offene. Erste Gedichte aus einem neuen Jahrtausend · mit Anton G. Leitner · 2000.
19 ∙ Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus 1100 Jahren · 2001.
20 ∙ Städte. Verse. Deutschsprachige Großstadtlyrik der Gegenwart · 2002.
21 ∙ Zeit. Wort. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2003.
22 ∙ Lunas kleine Weltrunde. Das Mondkarussell der Poesie · 2003.
23 ∙ Spurensicherung. Justiz- u. Kriminalgedichte · mit Amir Shaheen · 2005.
24 ∙ 47 & 11. Echt kölnisch Lyrik · 2006.
25 ∙ Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik · 2008.
26 ∙ An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes · 2009.
27 ∙ Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2009.
28 ∙ Versnetze_drei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2010.
29 · Versnetze_vier. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2011.
30 · Versnetze_fünf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart ∙ 2012.
31 · Versnetze_sechs. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart ∙ 2013.
32 · Versnetze_sieben. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart ∙ Herbst 2014.
Bild · Blick · Buchstäblich · Blutberberitze · Beiträger · Bora
bora mit der europastraße nach zagreb einen nachmittag aus der ebene gesägt nachts hob sie sich morsch von gedankeneinschüssen & den salven der plastikplane über der vorvorgestrigen grillkohle und MOSOR & KOZIAK alles gefallener abfall vom mond gebröckeltes licht und irgendwo landet (der flughafen wiedereröffnet) im tv-verminten gelände der blick zurück ohne ziel Marcus RoloffEs ist Fama, daß Gedichte im zeitgenössischen Leben moderner Menschen kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Das Gegenteil ist der Fall: Buchstäblich überall begegne ich attraktiven Wörtern, Reimen, Sprüchen, Zweizeilern, Vierzeilern. SMS-Botschaften vor allem junger Menschen geraten immer wieder zu verblüffend lyrisch verdichteten Kurzsequenzen, hat man mir gesagt. Ich erlebe nonstop Lyrisches in der Sprache des Alltags – an der Ecke, im Kiosk, an der Tankstelle, im Supermarkt, in der Fabrikhalle, am Mittagstisch, auf dem Feldweg, im Wald, beim Fernsehen, am Meer, im Internet »usw.« –, die unentwegt so überraschend bildhaft daherkommt und voller übermütiger Vergleiche, tollkühner Metaphern, geistreicher Witze, hemmungsloser Über- und Untertreibungen steckt. Und wieviel Lust am bildstarken, klangvollen Wort finde ich in den Fachsprachen vor – wie viele biologische Bezeichnungen, beispielsweise, tragen dieses Besondere in sich, das ich ›lyrisch‹ nenne: Blutberberitze, Tausendgüldenkraut, Teufelskralle. Die Sprache der Werbung begleitet mich auf Schritt und Tritt mit zugespitztem Wort und eingängigem Bild, ganz zu schweigen von den zumeist gereimten, oft anspielungsreichen Texten der allgegenwärtigen Songs der Hardrock-, Hiphop-, Pop-, Funk- und Punk-Szene (usw.), die wiederum vor allem junge Menschen wie selbstverständlich mitsingen. Die meisten von ihnen denken dabei wahrscheinlich gar nicht darüber nach, wie nah ihnen Lyrik und lyrische Sprache am laufenden Band sind, vor allem eingedenk der von Karl Otto Conrady so einfach und klar formulierten Ansage Lyrik muß nicht lyrisch sein, die die Bandbreite der Form(ulierungs)-Möglichkeiten im Gedicht ins Unendliche gleichsam ausdehnt.
Can · Careless · Chaos · Chaotisch · Comic
Chaos (vom griechischen χάος oder cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-)Ordnung oder das Universum. (Wikipedia)
Zu brav, zu eindimensional, zu leichtfertiges careless writing, denk ich beim Lesen eines Gedichts auf dieser, zu glatt, zu konventionell, zu schwingungsarm bei einem Gedicht auf jener Seite, um unmittelbar auf das chaotisch-wilde Comic 3 zu stoßen, das von jenem lakonisch-lockren Sound durchweht wird, den ich mir in Gedichten, denen er besonders guttäte, immer so sehr wünsche. Und da wir gerade beim Buchstaben C sind – Billy Collins meint: One of the ridiculous aspects of being a poet is the huge gulf between how seriously we take ourselves and how generally we are ignored by everybody else, während Noel Coward betont: Work hard, do the best you can, don’t ever lose faith in yourself and take no notice of what other people say about you.
Comic 3 An dem Tag (ein Dienstag), an dem die Theorien anfingen mit ihren Konsequenzen Ernst zu machen, d. h. ein riesiger Schrödinger- STRUMPF oder SCHLUPF (das weiß man nicht) die Maschen der Raum-Zeit zerriß, plötzlich alle top-Quarks TRUDELTEN (Kramers), und zwar chaotisch, also ein sog. von-Neumann-KUCHEN entstand: eine Schönheit, aus der 1 Vögelchen flog (vermutet ein Higgs-Teilchen), zwitschernd, an dem die gesamte web-Wissensgesellschaft sich zur ersten Weltorgasmusparty im Internet traf, und ein gentechnisch erzeugter JAPANER mit nachts nach- wachsenden Extremitäten alle Kinder entzückte … entstanden seltsame Sorgen in uns; für kurze Zeit. Maximilian ZanderDuddel
Das Café Duddel vermittelt den Eindruck eines gemütlichen Wohnzimmers, in das man sich verirrt hat. In einer sehr familiären Atmosphäre genießt man hier klassisches Caféflair: (Locationsite.de/duddel.htm)
Wenn schon ein Kölner Café Duddel heißt, wär es doch eine geradezu sträfliche Vernachlässigung, wenn es kein Gedicht mit diesem Titel gäb. Aber, aber – es gibt eins, sehr wahrscheinlich dieses eine bloß. Und so ist also jetzt der Augenblick gekommen, mir Zeit für die Bereitstellung eines seit Jahrzehnten liebgewonnenen Getränks zu nehmen, einmal nicht an Brinkmann oder Ringelnatz zu denken, mich zurückzulehnen, um nichts als frohen Herzens zu genießen – wie damals in den 70er Jahren, als ich noch nicht ahne, wie tödlich Rauchen sein kann:
Mittags im Duddel Wenn man im Café Duddel sitzt sagen wir gegen Mittag und die Sonne kommt gut rein dann kann man durchs Fenster auf die nackten Schultern eines Mädchens sehen nackte Schultern mit dünnem schwarzem Träger nackte braune Haut strahlt durchs Glas in die Pupille. Und man nimmt einen Schluck von dem Milchkaffee und guckt rüber in die Ecke wo Schatten ist und eine Kerze auf dem Tisch steht. Und hinter der Kerze sitzt ein rauchendes Mädchen es sitzt allein am Tisch und blickt traumverloren vor sich hin und es ist ein schönes Bild. Und es gibt noch die abblätternden Farben an der Tür die leicht offen steht und die Musik von einer sanften Gitarre kommt aus den Boxen. Es ist Mittag im Duddel und die Sonne kommt gut rein und du sitzt am Tisch am Fenster und spürst ein angenehmes Gefühl in dir hochsteigen. Die Kellnerin hat sehr lange und sehr blonde Haare sie sitzt neben ihrem Freund auf dem Kaminsims des russischen Ofens und der Mann streicht ihr sanft über den Kopf man traut sich nicht – obwohl jetzt in Eile – »Zahlen!« zu rufen. Ich lehne mich zurück auf ein paar Minuten kommt es auch nicht an nicht im Café Duddel vor allem nicht gegen Mittag wenn die Sonne gut reinkommt und man durchs Fenster auf die nackten Schultern eines Mädchens sehen kann. Bert BruneEditionsart · Ergänzung · Eisberg · Ende · Exemplarisch
Es bringt Poeterey zwar nicht viel Brot ins Haus / Das drinnen aber ist / das wirfft sie auch nicht auß. Friedrich von Logau (1605-1655)Mittlerweile hat sich der von Shafiq Naz so liebevoll dialogisch und kenntnisreich edierte deutsche Lyrikkalender. Jeder Tag ein Gedicht neben dem Jahrbuch der Lyrik und Versnetze als gleichsam dritte jährlich herausgegebene Lyriksammelbandkraft etabliert. Wird die erste Ausgabe von 2005 noch in erster Linie vom Club der toten Dichter dominiert, finden sich seit einigen Jahren unter den jeweils 300 Autoren rund 150 Zeitgenossen. Ich vergleich die Register der drei aktuellen Sammlungen von Buchwald, Kutsch, Naz und erkenne, wie wunderbar die drei Anthologien einander ergänzen. So tauchen, beispielsweise, Nora Gomringer, Marion Poschmann und Monika Rinck 2011 weder im Jahrbuch der Lyrik noch in Versnetze auf, im Lyrikkalender 2012 finde ich sie alle drei.
Wir können getrost davon ausgehen, daß schon jede einzelne Anthologie für sich betrachtet mit ihrer spezifischen, eigenwilligen Editionsart exemplarisch die Bandbreite von bewährten, mehr oder weniger bekannten hin zu neuen, nahezu unbekannten Autoren vermittelt, aber eine gleichsam allumfassende Übersicht wird erst durch das Zusammenspiel aller drei Anthologien vermittelt, deren Herausgebern ich, selbstsüchtig, ein langes, langes Leben wünsche, in dem die Lust aufs Herausgeben von Gedichten – trotz sicherlich manchen Verdrusses bei der wohl nicht immer lustigen Editionsarbeit – nie geringer werden möge. Versnetze-Herausgeber Axel Kutsch ist übrigens das verbindende Glied in dieser außerordentlichen Anthologie-Kette, ist er doch als Lyriker immer wieder im Jahrbuch und regelmäßig im Lyrikkalender vertreten:
Was Gedichte dürfen In diesem Gedicht sehen Sie einen Eisberg versinken und die Passagiere der Titanic auf den Untergang trinken. Nach der Ankunft erzählen sie ihren Verwandten froh: Stellt euch vor, wir reisten mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio. Doch die Verwandten fragen sichtlich betroffen: Ihr seid hier in New York und nicht abgesoffen? So ist es, wenn Eisberge im Wege steh’n: In Gedichten läßt man sie untergeh’n.Frei · Forciert · Fragiles Fragment · Fortgeschrieben
Die Absicht des Versnetze-Herausgebers war es auch diesmal, ein möglichst umfassendes Panorama lyrischer Schreibweisen zu entwerfen, in dem der bodennahe Vers ebenso seine Berechtigung hat wie der experimentelle Umgang mit dem Wort. Leichter zugängliche Gedichte stehen neben hochkomplexen Arbeiten, Dissonanzen neben Wohlklang, Epigramme neben seitenfüllenden Texten, Scherz, Satire, Ironie neben tieferer Bedeutung. Im Gegensatz zu durchaus begrüßenswerten Sammelbänden mit Lyrik junger Autoren, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, gibt es in den Versnetzen keine Alterskontrolle. Poeten aller Generationen sorgen mit immer neuen Texten für die pulsierende Vielfalt der gegenwärtigen deutschsprachigen Dichtung. Beispiele dafür finden sich in Versnetze, einer Anthologie mit lyrischem Werkstattcharakter, in reichem Maß. (Axel Kutsch)
Faszinierend die Vielgestaltigkeit, die seit Beginn der 1990er Jahre wieder zunehmend selbstverständlicher geworden ist in Gedichten, die im deutschen Sprachraum verfaßt werden. Axel Kutschs Anthologien sind bekanntlich die ersten Versvehikel, mit denen ich vor gut zwanzig Jahren intensiver als in den Jahrzehnten zuvor, in denen Prosa die erste Geige spielte, durch die Welträume deutschsprachiger Gedichte zu düsen beginne. Als ich mich 1999, in der Monographie Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren, erstmals an eine Bestandsaufnahme der Kutsch-Sammelbände wage, versuche ich, die verschiedenen vorgefundenen Arten und Weisen von Gedichten in einem mehrere Merkmale aufzählenden Satz zusammenzufassen. Jener Satz ist gleichsam Urzelle für das im Laufe der Jahre vom prosaischen Satzgefüge zum lyrischen Essaygedicht gewachsene fragile fragment, das, von Fassung zu Fassung, in einem langen Atemzug die Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten einzufangen sucht, die ich in Versnetze und den vielen anderen Lyrikanthologien im Laufe der Jahre an zeitgenössischen Ausdrucks- und Formmöglichkeiten entdeckt hab:
the poem is a machine made out of words und das spektrum des zwischen hinterlandschlucht und zentralstraßenflucht schwingenden so oder so also einsilbig oder wortreich fest- oder freimetrisch no verse is libre for the man who wants to do a good job alliterierend assonant ›poetisch‹ oder prosaisch spartanisch oder simultankaskadisch licht leicht luftig düster drückend dumpfig klangvoll singend oder antilyrisch quarrend überhitzt unterkühlt unterspült überspitzt und metaeuphorisch synästhetisch und katachretisch standardisiert w∙ort∙spiel∙er∙i∙s∙ch konkret dialektal leichtfüßig oder verschleppt schlicht oder kraß rotzig erhaben jambisch trochäisch daktylisch anapästisch erdig oder intellektuell ernst finster knochig oder parodistisch flimmernd rhapsodisch ironisch und sarkastisch und zynisch schwärmerisch schüchtern herb oder sanft heiter oder hypochondrisch lässig oder forciert (usw.) ge|form(ulier)ten jedes banale bedeutsame ding des mikromakrodaseins aus nächster nähe der totalen in blaugenauen blick nehmenden vielfach konterkarierenden gedichts in fiesen zeiten bloß noch ganz kleiner verschiebungen erstreckt sich naturgemäß als word in progress vom eingewurzelten bildreichen strophengedicht zur zusammengepurzelten proëmcollage und visuellen bricolage von ana- und epi- über leipo- zum paragramm von lustigem klartext zu listiger verkrallhornheutung von kreuzpaargereimtem zu alltagsparlando von weltumspannendem haiku über akrostichon cento zu ode sestine sonett terzine vom zankäpfelnden aphorismus zum maulfaulen sprich:wort von tiefstapelndem einwortgedicht über herunterspielenden vierzeiler zum balladesken erzähl- und ausschweifenden langgeschichtgedicht mais degas ce n’est pas avec des idées qu’on fait des vers c’est avec des mots von feurigen stimmungsversen zum wasserumwallten wortschwall von politisch grundierten mit suggestiven notbotschaften scharnierten versen über pure sture zur privaten poesie für öffentliche ohren hier tänzelnde bachdichtung dort schwänzelnde fachsprachrichtung hier kakophonische krachmischung dort hyperbolische lachlichtung hier derekonstruierende machdichtung dort gedankenweiche nachsichtung von hermetisch verrätselten über doppelt gemoppelte zu offen strukturierten blockflattersatzstrophen von assoziativ verketteten überbordenden kurioskurrilen phantasmagorien zu (›realität‹ verfremdender) dra- lakonischer inventur von beat pop zum ätherischen gedicht vom verlegenheitsvers zum gelegenheitsgedicht von sonnenstrahl und thunderstorm zum krenatürlichen flockenflug von kinovativer sp∙r∙a∙c∙h∙sch∙r∙öpf∙ung zu kongenialer nachempfindung hommage remix und anverwandlung vom dichtung aller länder und zeiten in die unerhörte zange nehmenden gedicht des poeta doctus zum naiven notat des art-brut-texters von der chiffrierten zur intertextuellen verflechtung von der notgebornen knottrigen attacke zur müßigen besinnung von allegorie metonymie emblem und symbol zu salopplyrik ohne ›denn‹ und ›laber‹ vom absurd anwutenden oxymoron zum grotesk geifernden paradoxon vom narbenfrohen nonsens zum warzweißen schiefsinn stimmt es oder glimmt es nicht from poems with to poems without punchline von sehr naturfeiner strammfrommer graukrautpoesie übers schwer metalyrische gedichtgedicht zum mehr tiktaktisch klugen lehrgedicht vom genicht für o niemand über poets’ poetry für den einen zum gedicht für jedermann von stillen um eine metapher bloß rankenden versen zur schrillen hektischwilden über unkenntlichen blattraum und weit darüber hinaus sich schwindelnden pleophantastischen montage oder wirbelwurmigen endloszeile vom stottrigen s|t|a|k|k|a|t|o zur geschmeidigen bijouterie vom surrealen kopsterbölter über dissonanz und lautlyrik zur tramagischen volksliedstrophe von turbaner häuserzeile bis zur frustikalen zeitgemäß f/·®/a|g*-›m‹e↔n⌂-tier-Δ÷t‼?¢e×n beziehungsweise befremdelnden sumpfdotterblum ich gehe in ein anderes blau im schneegestöber von heute // der ›dichter‹ liegt vor hitze stockt der mut / in heißen lüften ist kein wort dabei / die zeit der großen verse ist vorbei / und in den brüsten seh ich geizt die glut // der wurm ist nah hier hilft wohl bloß noch ducken / und sich mit schicken kämmen zu bestücken / die feisten schreiber gehen schon an krucken / die dreisten leser wollen sich verdrücken
Gedicht · Gegenteil · Geschichte · Gewicht · Gewichtung · Gesang
To have great poets, there must be great audiences, too. (Walt Whitman)
Die Formel für die Berechnung des spezifischen Gewichts des Gedichts ist noch nicht entdeckt. Das in meinen Augen viel schwieriger zu berechnende Gewicht der Seele wurde bereits 1907 von Duncan MacDougall ermittelt: Es beträgt 21 Gramm. Und so zanken In- und Outsider, Lyriker, Leser, Kritiker, Professoren und sonstige Lesewesen nach wie vor wie die Kesselflicker bei der Gewichtung von Gedichten – stets nach dem Grundsatz von Ulla Hahn postulierten Grundsatz Das Gedicht ist so harmlos und gefährlich wie der Leser selbst. Wie untröstlich, bei Maximilian Zander, der im übrigen den Vorschlag für die Klassifizierung: Lyrique, Lyrik, Lürick macht, zu lesen: Viele Damen und Herren, die Gedichte schreiben, müßten dies nicht tun, wenn sie nur rechtzeitig Klavierspielen gelernt hätten, oder Geige.
Ich les in Versnetze neben hochkomplexen auch ausgesprochen belanglos-schlichte Gedichte, in denen ich Elemente wie Bildlichkeit, Brechung, Formbewußtheit, Klangkorrespondenz, Kontrast, Listenreichtum, Magie, Mehrfachebene, Metaphorisierung, Montage, Temperament, Schwingung, Sinnlichkeit, Sound, Überraschung, Witz, Wortspiel »usw.« vermisse, die ich mir beim Lesen von Gedichten immer wünsche: ein Gewitter / wirft funkelnde Schlüssel / ins Zimmer, les ich heute bei Ernst Meister.
All das findet sich, mehr oder weniger, je nachdem, was notwendig erscheint, naturgemäß auch im gelungenen schlichten bzw. lakonischen Gedicht, das ich überaus liebe: Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs, seufzt Rolf Dieter Brinkmann. Im übrigen finde ich Gedichte aller Stilrichtungen und Macharten gut – wenn sie gut gemacht sind. Aber: Was heißt ›gut‹, höre ich nun meinen Vater (1924–2006) flüsternd fragen, und, schon wieder, scheiden sich die Geister.
Alarmsignal ist für mich, beispielsweise, die Verwendung einer Formulierung wie Und doch. Wer das ohne ironischen Hintersinn niederschreibt, wird, sehr wahrscheinlich, der Botschaft den Vorrang vor dem Formalen geben. In solchen Momenten fühle ich mich vors Wort zum Sonntag katapultiert, das ich als bekömmlich allerdings bloß in der Art und Weise empfinden kann, wie Otto, der außerfriesische Kirchenmann, es mir so herrlich nahebringt.
Nun, was wollen uns diese Worte sagen, fragt der Außerirdische zum Schreien salbungsvoll, und gerade das will ich mich beim Lesen von Gedichten nie fragen, werde jedoch regelrecht dazu gezwungen, wenn ich Worte wie Und doch mit anschließender Auflösung vorfind, denn diese Worte wollen mir ungefragt und offenbar unbedingt etwas sagen, mitteilen. Ja, bin ich denn hier beim Kreuzworträtsel oder was?! Ich muß mir so viel sagen lassen in diesem Leben, da will ich mir wenigstens die Welt der Gedichte als Freizone gönnen, in der ich mir nichts sagen lasse. Die Wörter sind, die Wörter scheinen auf, die Wörter klingen. And that’s that. Nichts, übrigens, dagegen, wenn ein Gedicht darüber hinaus eine Geschichte erzählt – im Gegenteil.
An einem jener Abende vor ein paar Jahren befragt Marietta Slomka Herrn Westerwelle zum Libyen-Konflikt, und ich frage mich bei den Antworten die ganze Zeit: Nun, was denn wollen (sollen?) uns diese Worte sagen? Wir werden es nie herausfinden, und es ist an dieser Stelle und sonst wo auch nicht weiter wichtig.
Mehr lesen (Bücher sind natürlich gefährlich, zeigen Grenzen auf), sich intensiver mit Gedichten aller Arten, Weisen und Zeiten befassen, die Errungenschaften der Lyrik seit 3000 Jahren eigenen Versen im besten Sinne anverwandeln lernen, ruft es unwillkürlich in mir, wenn ich die fast schon zu schlichten Verse vornehmlich älterer Jahrgänge les, die der exzellente Lyrikkenner Axel Kutsch offenbar ganz bewußt, wohlüberlegt und mit gutem Grund in Anthologien mit Werkstattcharakter nicht ablehnt.
Und so taucht, unwillkürlich, erneut die Frage nach dem spezifischen Gedichtgewicht auf: Lieg ich bei der Gewichtung der von mir im stillen als Schwachstromzeilenbruch abqualifizierten Texten daneben? Legt manch andrer Leser gerade auf diese Texte besonderes Gewicht? Empfindet er, im Gegenteil, gerade die oft so komplex (und auf ihn verkopft?) wirkenden Gedichte jüngerer Jahrgänge forciert, seelen- und gewichtslos?
Lyriklandschaften mit treibsandigem Untergrund, vermintes Gelände. Allen Lesern mit zu vielen Sorgenfalten im Gesicht möchte ich in diesem Augenblick mit Charlie Chaplin, der einst meint, das Leben sei halb so schlimm, zurufen: Versnetze – halb so schlimm. Und wer eine Anthologie anders edieren will als Kutsch, Conrady, Kuhligk & Co. – nur zu: Niemand hindert ihn daran.
UHREN ZOGEN MICH AUF. Einmal trat ich auf eine Ameisenstraße und löschte den Wald. Ich saß auf einem Strohballen und wußte noch nichts von der Strichliste meiner Tage. Mein Herz, hieß es, habe man auf einer Drosselschmiede gefunden, und der Gesang kam schon näher. Noch verschlossen, fand mich das Gedicht. Ulrich KochHaupt ∙ Heute · hänget · heilignüchtern ∙ Himmel · Herz · Hirn
Ein Tag im milden März 2014 · Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See · Ich les, ziellos, Dichtung ist Geometrie im wahrsten Sinne des Wortes (Lautréamont), in Fragmenten ∙ Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser ∙ Offenbar ist es keineswegs leicht, ein großer Dichter zu werden (Ezra Pound) · Da ist das Gedicht, dort ist das, was es auseinanderlegt (Franz Josef Czernin) ∙ Die Arbeit bringt einen zur Raserei (Wladimir Majakowski) · Geh bloß zu deinen Papierfetzen zurück, deinen Silben (Brigitte Oleschinski) · Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde? ∙ In der dichtung ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ›sagen‹ oder ›wirken‹ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten (Stefan George) ∙ Der Dichter, der im Begriff ist, ein Gedicht zu machen, hat die unbestimmte Empfindung, daß er in einem sehr fernen Wald auf eine nächtliche Jagd geht (Federico García Lorca) ∙ Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.
DUNKELKAMMER träumen, rapid eye movement wie ein vogel flöge in die entsicherte landschaft spreizen, das hirn weit, weiter bis das denken zerstiebt sperrig das ufer federn, bleiche lichtbrechende pfützen pulsierend nur der rand der aussicht der sich ins vage verliert der schmale streifen meer solider als der zögerliche himmel der geile, tote salzgeruch unter schwindender sonne flatline – – und das herz, der vogel schreit sanfter, unerreichbarer körper blass krallen sich finger ins unterbelichtete Andrea HeuserIneinander · Informatorisch · Interesse · Intuition
Die Stimmenvielfalt in Versnetze erscheint wichtiger als die Auslese. (Matthias Hagedorn)
Es gibt drei Arten von Anthologien. Die der ersten sind Dokumente der hohen Literatur, machen jedenfalls darauf Anspruch: Auswahlsammlungen, die von einem mehr oder minder berufenen Literaten nach Grundsätzen gemacht sind, die, eingestandenermaßen oder nicht, einen normativen Charakter haben. Solche Sammlungen können großes Interesse besitzen. Man braucht nur den Namen des deutschen Dichters Rudolf Borchardt zu nennen, um anzudeuten, in welchem Grade sie eigentliche literarische Dokumente darstellen können und als solche der Kritik ausgesetzt sind. Die zweite und seltenere Gattung setzt sich rein informatorische Ziele. Ihr ist gemäß, daß der Herausgeber anonym bleibt, wenn man es nicht überhaupt mit einer größeren Gruppe von Editoren dabei zu tun hat. Die häufigste aber unerfreuliche Gattung ist die dritte; ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte sucht das nutzlose Spiel eines Unberufenen dem Publikum gegenüber interessant zu machen. Die vorliegende Sammlung ist ein reiner Typ der zweiten Gattung, die augenblicklich die willkommenste zu nennen ist. (Walter Benjamin)
Axel Kutsch bleibt als Herausgeber weder anonym, noch schart er eine Gruppe von Mitherausgebern um sich, er überläßt jedoch, nach jeweils kurzem, sachlich formulierten Vorwort den Gedichten, jedem einzelnen Gedicht, vorbehaltlos den Raum, in dem diese sich, Seite für Seite, entsprechend des Anordnungsprinzips nach Postleitzahl und Geburtsjahrgang der Verfasser für sich präsentieren und miteinander arrangieren – je nach dem, wie es den Leser anspricht bzw. wie es ihm gefällt. Versnetze, die Anthologie mit Werkstattcharakter setzt sich in erster Linie informatorische Ziele.
Ende vom Lied der lange Marsch durch die Intuitionen knirschende Laute aus der Hirnlandschaft vor einer Winterwiese abgestreifte Schuh: das Glück, nicht mehr dazuzugehören Marcus NeuertJandl · Jugend · Judenstern
Die Rache der Sprache ist das Gedicht. (Ernst Jandl)
Ich vermiß Ernst Jandl, dabei ist er doch allzeit gegenwärtig, anwesend, da. Wir sind einander nie persönlich begegnet. Schade. (Was genau ist das – ›schade‹?) Ich blick auf ein schwarzweißes Bild, in dem Jandl neben FM auf dem Bett in der Wiener Wohnung hockt und, ganz ernst, in die Kamera schaut. Wenn ich einen Jandl-Vers les, werd ich an den Ort katapultiert, den Shafiq Naz the domain of poetry nennt. Ich les seine Bücher, Gedichte, Verse, Gedanken immer und immer wieder. Mit vergleichbarer Passion les ich Friederike Mayröckers Verse und Zeilen. In der Kurzlyrik-Anthologie Blitzlicht von 2001 les ich:
an Ernst Jandl will dir Schwalbe ausschneiden : blaues BUNTPAPIER himmelblau wie dein Herz das ich entbehre Friederike MayröckerIch denk täglich an Jandls Gedichte, sprech die mir geläufigen gern vor mich hin. In den Kutsch-Anthologien Orte. Ansichten, Das große Buch der kleinen Gedichte, Blitzlicht und Spurensicherung ist er vertreten. Ich nutz den Augenblick, nehm die vier Sammelbände aus dem Regal, les die Jandl-Gedichte burgtheater (aus meiner jugend), camping, gewürfeltes gedicht, korrespondenz, lichtung, vater, komm erzähl vom krieg und schließlich
unterwegs auf der straße zum belvedere schritt ein bleicher hagerer mann trug einen kaftan mit judenstern wir blickten einander an dieser blick war unsere rede was sie ihm gab? mir gab sie mut was ihm geschah, muß ich vermuten von mir weiß ich: ich lebeKlekwapufzi · Königin · Kontroverse · Kriegserklärung · Kroklokwafzi
[Sind es die Straßen]
Doch sind es die Straßen, die erzählen, / oder sind es die Menschen, die den Straßen / erzählen, sind es die Schuhe der Menschen / auf den Straßen, die zählen, zählen die Straßen / die Schuhe der Menschen, oder zählen die Schuhe / die Straßen und die Menschen, die sie queren, / queren die Schuhe mit den Menschen die Geschichten / auf den Straßen, tragen die Schuhe der Menschen / die Geschichten der Straßen, wenn sie laufen, laufen / die Menschen mit den Geschichten der Straßen / an den Schuhen in die Häuser, wo sie leben, leben / die Geschichten der Straßen an den Schuhen in den Häusern / der Menschen, die dort wohnen, sind die Menschen / für die Häuser, wenn sie schlafen, oder / sind die Häuser und die Menschen für die Straßen / sind es die Straßen
Sabina Lorenz
Allerhand Verse, Versarten gibt es, katalektische, akatalektische, brachykatalektische, sogar hyperkatalektische. Füße haben sie, allerdings kein Rückgrat, keinen Kopf. Keinen Kopf? Da fällt mir die Stelle im zweiten Akt von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen ein, als Moritz seinem Freund Melchior diese Geschichte erzählt:
Es ist, als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von der »Königin ohne Kopf« erzählen. – Das war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange Jahre glücklich und in Freuden … Verwünschter Unsinn! Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, sehe ich es ohne Kopf – und erscheine mir dann plötzlich selber als kopflose Königin … Möglich, daß mir noch mal einer aufgesetzt wird.
Friedrich Schiller schreibt im Brief vom 24. November 1797 an Johann Wolfgang Goethe: Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird. Das mag ja alles sein. Kraus für sein Teil zählt jedenfalls die ›Kontroverse‹ zu seinen liebsten. Beispiel gefällig? Das Gedicht, das bislang noch nicht in einer Kutsch-Anthologie steht, schwingt bei mir und meinen Freunden Bensch und Kraus beim Lesen von Lyrik ganz oft ungefragt mit, was, naturgemäß?, weitere ›Kontroverse‹ auslöst …
Das große Lalula Kroklokwafzi? Semememi! Seiokrontro – prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalemi: quasti basti bo … Lalu lalu lalu lalu la! Hontraruru miromente zasku zes rü rü? Entepente, leiolente klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lala la! Simarar kos malzipempu silzuzankunkrei (;)! Marjomar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei []! Lalu lalu lalu lalu la! Christian MorgensternLebenslauf · Leichtigkeit · lindgrüne Lufttänze · Lyrik
lehmslauf wennsd aff di weld kummsd gräichsd vuä deim geburds- daddum ä schdernlä wennsd schdirbsd ä kreizlä: wos willsdn meä? Fitzgerald KuszJa, was will ich mehr? Was will ich mehr, was will ich mehr, manches will ich schon sehr, sehr. Beispielsweise : Lyrik – also:
Lufttänze
Sie stürzte und stand auf, setzte sich in Bewegung und fiel, erhob sich, verlangte noch viel von den Füßen … Und wenn ihr an manchen schief hängenden Tagnächten nichts mehr gelang, war zumindest der Küstenwind da, der sie aufrichtete. Aber nun schweigt seine wehende Zunge, und sie rührt sich von der Stuhlkante, nur um auf dem sich weich anfühlenden Boden zu liegen.
Und umgekehrt. Je starrer der Rücken, desto rasender ihre Blicke, die auf dem Fensterglas bibbern und krabbeln, sich an den gealterten Stuckdecken stoßen, während ihr Hirn tot geglaubte Filmszenen auswirft, wie sie rudert, zum Beispiel, und den Flußweg der Klapperschnäbel durchkreuzt oder sich im spitzgelben Heu wie eine Großkatze umwälzt, ein sinnlicher Anblick.
Sie erkennt sich wieder, und dennoch kommt es ihr vor, als sei sie nie so gewesen. Oder nur einsommerlang. Wie der überschwängliche Maikäfer, ihr lindgrünes Haar durchstreifend. Gestern kehrte er zurück. Als wollte er nochmals vorführen, wie sie aus sich, dem Überbleibsel, eine Lufttänzerin erschaffen könnte.
Mit welch einer Leichtigkeit läßt sich auf einmal der Stuhl zum Fenster schieben, ruft sie verwundert. Vielleicht lerne ich die passenden Drehungen schnell, und der Aufwind läßt mich dann fliegen.
Francisca Ricinski
Müll · Menschen · Möwen · Mütze · Mikrowelle
Unter Abfall bzw. Müll (schweizerisch auch: Kehricht, österreichisch auch: Mist) versteht man nicht mehr benötigte Überreste im festen Zustand, was Flüssigkeiten und Gase in Behältern einschließt. Chemische Rückstände werden auch als Abfallstoffe bezeichnet. (Wikipedia)
Während ich Claudia Gablers Gedicht zu lesen beginn – Ich gehe durch die Straßen, als hätte ich den Müll / der ganzen Welt in meinem Kopf – schleichen sich, ungefragt, aus der Tiefe des inneren Raums die Auftaktverse von Else Lasker-Schülers Weltende – Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär – heran und legen sich über die Gablerschen Wörter – ein faszinierendes Erlebnis, das mich begeistert und nicht nur nicht vom Weiterlesen dieses Gedichts ablenkt, sondern jenes zusätzlich befeuert, und ich denk, lächelnd und frei nach Terentianus Maurus: Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Gedichte ihre Schicksale.
Ich gehe durch die Straßen, als hätte ich den Müll der ganzen Welt in meinem Kopf. Aber tatsächlich sind meine Gedanken nur Punkte auf meinem Haus. Ich ertaste die Fassaden und wünsche mir Handschuhe aus Cashmere (so ist schon mancher Fuchs zum Menschen geworden). Ich treffe auf ein Auto, das allein seine Runden dreht. Das gibt mir Kraft und ich mache ein Bild von uns zwei, das vom Reisen erzählt. Im Hinterhof träumen die Möwen vom Strand, die Töne dazu kommen aus der Mütze ihres Betrachters, der wie ich ein Spaziergänger ist. Meine Mikrowelle singt leise das Lied von der Berlin-Immobilie. Claudia GablerNamen · Nimm · Nachtgeräusch
Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut. (Goethe · Faust)
Aus dem Alphabet der rund eintausendzweihundertneundundsechzig in Axel Kutschs 32 Lyrik-Anthologien versammelten Autorennamen springen mich Altschwager · Buntrock · Cenefels · Dornheim · Eichhorn · Funke · Gutzschhahn · Heidebrecht · Ischebeck · Jungheim · Kudernatsch · Lichtenstein · Morgenstern · Nitzberg · Pockrandt · Quinkenstein · Rafflenbeul · Schröpfer · Tuckermann · Uhlenbruck · Vortmann · Wildenhain · Zornack besonders an, ich schreib sie auf, les sie laut, lausch, lach und jonglier: ›dorn‹ / ›horn‹ /›zorn‹ finden, wie von selbst, zusammen, ›fels‹ und ›stein‹, ›alt‹ und ›jung‹, ›hain‹ und ›stein‹, ›do‹ und ›isch‹, ›funke‹ und ›stein‹, ›berg‹ und ›heim‹, ›rock‹ und ›stein‹, ›vort‹ und ›nitz‹ …
nachtgeräusch nimm meinen kleinen vers an dich mit diesem proviant komm durch den lauten tag und leg die stimmen ab, den staub das raue tuch nimm dir von meiner dunkelheit so viel du brauchst und bette dich in meinen atem Andreas LehmannOhr · Opfer · Ortung ∙ Orte-Worte
Ich möchte die Gedichte schlichtweg verorten. (Björn Kuhligk)
Vielleicht sollte man das Konzept Orte abschaffen. (Uljana Wolf)
Ortung Für Sigurd Paul Scheichl Ein Rauschen im Ohr, es könnte das Meer sein. Bald sind die Jungmöwen flügge. Die Erinnerung sucht, was du nicht sahst, als du es erlebtest und das nun etwas anderes ist. Die See, gelangweilt fast, leckt die Wunden ihrer Opfer, ist es Trauer, ist es Verhöhnung? Nach heftigen Kämpfen pissen übernächtigte Poeten ihr Bier aus. Widersprüchliche Meldungen kommen in Cabrios angerauscht, aus denen der Anhang irgendwelcher Scheichs steigt. An der Erdachse wird kräftig gebastelt, die Morgendrossel knallt gegen die Fensterscheibe. Noch verschlafen, suchst du deine Seele. Franz Hodjakzwischen den zeilen ∙ ist dada gar nicht mehr so weit weg ∙ abwesende vielfalt im dörflichen garten · im rinnstein · durch diese stadt der geisterfahrer · weit im festland · im fluß · zwischen den zweigen · auf dem rücken der naftaliberge · in der ägäis · liegen gleise blind in gräsern · unisono am fenster · im sonnenlicht an der wand · prachtvoll durch rußland · gänge treppen throne · taube thuja und mond ∙ am boden liegende muscheln ∙ das tal hinauf das tal hinab & über den berg · elbhang und rebe der pfad der hinausführt ∙ in den ängstebunker · über dem felsennest · made in china · aus schwangerem himmel · springt über den rand die dohle · in der bar st. tropez · unter den haufenwolken · im wald · in der ausgesperrten landschaft ∙ dreht sich die erde indes weiter · hinter charmanten ecken · am tresen · im kino · im schatten des schilfs · in 300 millionenstädten · vom erdboden verschluckt · halt los im freien fall ∙ in gedächtnisgruben · und an den fensterscheiben laufen sich gesichter ab · die komplette wendel einer eisentreppe · den himmel ritzt der horizont · mit abrißbirnen reißen sie das himmelsgewölbe ein ∙ wir haben es nicht gewußt ∙ der vogel hinter glas kann nicht singen ∙ im schattentheater ∙ windräder drehen beschaulich ihre runden · auf die weiße leinwand · am hinterkopf trennen sich die wege · die schornsteine des heizkraftwerks · laufen barfuß über stoppelfelder · bis zum
Bundesbeach Berlin Übertragungsfehler meldet das iPad launig Wie ein Bild das sich nicht übermalen lässt Die Soprane quengeln Reste von Roxy Music in der Luft Ursula v. d. Leyen äußert sich erstmals zum Thema Intimrasur Überall Lachsschlacke Spucksahne Einige berichten vom Feuer im Fraktionsraum Porzellanschweiß Piercings aus Nato-Draht Und auch 9Live sendet nicht mehr Markus PetersPaar · Papageno · Poetische Plattform · Pferde · Poker · Pot · Prediger
park der wollige schatten des pferds auf dem fries im kniehohen gras drunter birnig gedanken Heike Smets»Wat is ene Sammelband?«, hör ich Physiklehrer Bömmel in der Feuerzangenbowle fragen, und ein neunmalkluger (angehender) Junglyriker von heute würd auf seine altkluge Art vielleicht (was naturgemäß auch ›vielleicht nicht‹ heißt, aber was heißt das schon …) so antworten: »Ein Sammelband ist eine Anthologie ist eine poetische Plattform.« Bömmel würd ob soviel Beredsamkeit wahrscheinlich verdutzt gucken, grinsen und in seinem gemütlichen rheinischen Akzent meinen: »Immer langsam mit de junge Pferde.« Womit sich der Witzbold gleich als feinsinniger Kenner deutscher Lyrik geoutet hätte. Stelle mer uns also mal janz dumm und saren eso: Die Anthologie ist Forum, Jahrmarkt der Eitelkeiten, poetische Plattform, Aussichts- und Leuchtturm.
Die Lyrik-Anthologie ist aber auch – Pokerrunde: Die Lyriker setzen ohne Wissen um das Gedicht des Gegners vollen Einsatz auf die Gewinnchancen des eigenen Gedichts. Der Bluff spielt naturgemäß auch beim poetischen Poker die Hauptrolle: Mancher Autor versucht die Co-Autoren durch verflucht forcierte Verse dazu zu bringen, aus dem Pot auszusteigen, obwohl er selbst ein eigentlich schwaches Gedicht in der Hand hält. Beim Lesen kommt es zum Showdown, und jeder der tausend und hoffentlich mehr Leser entscheidet, welches Gedicht einem Paar, zwei Paar, Drilling, Straße, Flush, Full House, Vierling, Straight Flush oder gar Royal Flush vergleichbar ist. Je nach Anthologie-Variante hat der Herausgeber verschiedene Möglichkeiten, seinen Sammelband zusammenzustellen. Auch die maximale und die bevorzugte Autorenanzahl sind je nach Variante verschieden.
In mancher mit allen Wassern des Mains gewaschenen Anthologie gewinnt nicht die beste Lyrik – High –, sondern die schlechteste – Low –. Wie? Wie? Wie? Ihr an diesem Schreckensort? Nie, nie, nie kommt ihr glücklich wieder fort, singen die drei Damen in der Zauberflöte. Nein, an solchem Port will ich mich denn doch nicht metaphorisieren lassen, da schweig ich lieber, im Gegensatz zu Papageno, still.
My Pokerface ringsum nur geschiebe von leinwänden der entwurf einer groß artigen landschaft mit (blut und gedärm) draußen fallen die blätter innen blättert das leben seine letzten herztöne auf den tisch und möchte sehen Peter EttlQualheimat · Qualm · Qualmwolke · Qualwolke
Umgangssprachlich wird dichter, undurchsichtiger und gegebenenfalls dunkler Rauch als Qualm bezeichnet. (Wikipedia)
Ohne die exorbitante Qualmwolke über Sistig am späten Vormittag des 9. April 2011, die Peer Quer und ich beim Verlassen des Hauses, ohne Ahnung, daß ich kaum zwei Stunden später mit der Niederschrift eines Gedichts befaßt sein werde, unmittelbar als Qualwolke empfinden, wär das an dieser Stelle eingefügte Gedicht nicht qualm über sistig tituliert. Es hieße jedoch auch nicht so, wenn mir nicht das englische Wort qualm in den Sinn gekommen wäre, das u. a. die Bedeutungen ›Skrupel‹ und ›Zweifel‹ hat. In ›Skrupel‹ steckt wiederum der ›Rüpel‹, der dieses große Feuer mit offenbar feuchtem Holz und nassem Laub entfacht hat, in ›Zweifel‹ natürlich ›Eifel‹. Als Grübelmensch paß ich vielleicht ganz gut in diese rauhe Gegend, die ich zwar als Wahlheimat betracht, dabei auch – naturgemäß – als Qualheimat erleb. (Zunächst) fünf Tage lang tu und mach ich, bis es, irgendwann, zur vorliegenden Form mit dem dreizeiligen Langvers findet.
Gern send ich neue Gedichte an den einen oder anderen befreundeten Autorenkollegen – im vorliegenden Fall an Axel Kutsch und Ulf Stolterfoht –, um lyrikdienliche Hinweise zu erhalten, die entweder meinen naturgemäß noch von der Euphorie des Schaffensprozesses beeinflußten Eindruck vom neuen Gedicht bestätigen – oder nicht. Das Feedback ist im vorliegenden Fall von der Art, die nicht als geheime Offenbarung eingeschlossen bleiben muß, so daß ich das Gedicht im Juli 2011 mit fünf weiteren als Angebot für den Abdruck in Versnetze einreich. Axel Kutsch entscheidet sich schließlich für bensch ∙ endlich, blaupause · fortrocken und kraus – und nicht für
quer im qualm über sistig gleich nach der schalen tsunamizornradioansage reiben tausende burkatragende regierungstote augenstrahlende zeugen auf verteidigen flüchtlingstruppen bei zusammenstößen asylarbien mit wadenlosen rohgebärden gegen die draufgängrische elf der femensteinwüste wo möglich kommen islandkräfte zum grimmigen widerstandseinsatz rückkehr zur formalität geht weiter fragt sich quer: sind massenkarambodemonstrationen gegen unherrscher vergleichbar mit sehr befristeter nachbebenlage im vielkampfzerfahrenen japan (klecks im akw onagawa) was grassiert wenn regierung ungekühlt licht macht leiden kind und flegel schwer kopflose tote von adschdabija fukushima madrid paris rom smolensk tschernobyl bleiben im interview uneins über kryptonstrontiumtritiumuranschlammdammplage werden natospezialpuppen gegen palästinenserklage nur protestieren zwecks stratelegischem waffensparpaketatstreit mit ai weiwei verschleppt goubattagarabo heitere arbeiter im fatalen lampedusapflichteinsatz beschließen herzverzerrte guerillagruppen blind offenbar geheime durchhalteparolen [lauft ∙ rennt ∙ weg] versprechen stellen übereinanderstürzende räuberzivilrebellen vage blutverseuchte visa gau gau das schweigeminutenspiel ist gaulandsmeldungen der letzten ∙ sieben ∙ aktiven ∙ ruhetage
Rascheln ∙ Rausch · Rarotonga · Rhetorik · Rhythmus · Rostkopf · Rostzwerg
Benn, Eich, Huchel – read one line and you are in the domain of poetry. (Shafiq Naz)
Ich les Lyrik-Anthologien weiterhin so, wie sie geliefert werden: von der ersten bis zu letzten Seite, gleichsam in einem Zug. Und auch die Lektüre von Versnetze_sechs versetzt mich nach wenigen Seiten in den Rausch, der hier zu beständigem kopfnickenden Bejahen, dort zu kopfschüttelndem (virtuellem) Bearbeiten von Versen und Strophen führt. Da gibt es kein Halten mehr. Die Zeit des alle anderen überragenden grandiosen einzelnen Gedichts, das sich wie von selbst einprägt, scheint, längst, längst, vorbei zu sein. Selten der Fall, daß sich ein Gedicht für 15 Minuten dermaßen in den Vordergrund drängt, daß es für alle Gedichte, die in den 15 Minuten danach geschrieben werden, zum Vorbild werden könnte. Ja, es wird viel geschrieben. Jakob van Hoddis erschrieb sich mit Weltende Weltruhm im deutschen Sprachraum. Die Anthologie mit dem Arbeitstitel: This Is Just to Say mit jeweils von den Autoren selbst ausgewählten sechs bis acht Gedichten stell ich mir in diesem Augenblick vor, die mich vom Gegenteil dessen überzeugen könnte, was ich soeben gemutmaßt hab. So bleibt, wie Freund Kraus gern betont, letztlich stets alles
in der schwebe kraus schlug ∙ in der tat brutal ∙ die augen auf schon kam ∙ mittelwelle kanal sieben ∙ wie immer die nachricht vom ende der welt der held lachte ∙ dachte: na bravo rieb sich ∙ allein zuhaus ∙ infam ∙ die hände hörte posaunen von vogelsang alsdann: hunger ∙ qualgefühl in der kehle im kühlschrank blieb ∙ J ∙ kolossaler kracher ∙ die eine blankgelbe ∙ blendend feine ∙ kleine mirabelle kraus trug sie ∙ auf die schnelle ∙ ins schonzimmer las weiter in der amsel von glanmore und bat ∙ keine menschenseele ∙ um vergebung daß er lebeIn der Anthologie »Beständig ist das leicht Verletzliche«. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan, 2010 bei Ammann in Zürich erschienen, schreibt Herausgeber Wulf Kirsten im Nachwort: Jede noch so ausführliche wie jede noch so verknappende Gedichtsammlung muß zum Konstrukt geraten, gemessen an dem überreichen Fundus. Wie jede Gattung bedarf auch das Gedicht, das »die Beständigkeit des leicht Verletzlichen« (Oskar Loerke) in vielen Spielarten vorführt, mehr oder weniger kunstvoll variiert, einer Lebenskultur, auf der es zu gedeihen vermag. Diese wiederum trägt den pyramidenförmigen Bau, dessen Basis gemeinhin außer Betracht bleibt. Doch ohne ein solches in die Breite laufendes Erprobungsfeld und ein entsprechendes geistiges Klima sind Gipfelleistungen schwerlich zu erreichen.
Inmitten des herdigen Rudels der Gedichte stoßen mich Wörter mit ihren Schnauzen an. In blaupause · fortrocken verwend ich das Wort rostkopf, bin deshalb in diesen Tagen möglichervorzugsweis sensibilisiert für Rostwörter und stoß schon im ersten Gedicht in Versnetze_vier (von Andrea Brincker aus Banzkow) auf verrostete posten, im zweiten (von Stephan Reich aus Berlin) auf blut schmeckt wie rostiges eisen, im dritten auf rostlos, ach nein, rastlos. So steckt Rost, ich weiß es wohl, in vielen Wörtern, Phänomenen. Find ich in den Gedichten Trost? Keineswegs verwunderlich jedenfalls, daß ich in Saza Schröders 2011 in der Itzehoer edition footura black erschienenem und eben vom Postboten ausgehändigten Gedichtbuch AchKindheitduschrecklicheSüße gleich am Anfang auf den Rostzwerg stoß. Wenig später klingelt’s erneut, Shafiq Naz, Herausgeber des deutschen Lyrikkalenders, steht mit den Druckfahnen des neuen Kalenders vor der Tür, und zack, am 19. Januar schlägt’s schon wieder 13: In Christa Wißkirchens Gedicht Verirrter ICE steht der Rostzaun im Weg. So roste ich weiter vor mich hin und denk an Sarah Kirsch und die Droste. Und an Robert Frost. Und an Hendrik Rost. Vielleicht ein Gläschen Most? Glasnost. Was wohl bringt die Post? Vor ein paar Wochen wars Hansjörg Schertenleibs November. Rost. Aber zurück zu Versnetze, in diesem Fall Versnetze_fünf, in denen ich in Marlies Blauths hinterem Schrank, links den Rostgeruch einer Währung, die nicht mehr gilt, wahrnehme, während in Peter Kapps Gedicht ein Bagger mit rostiger Schaufel seiner Arbeit nachgeht. (In Daniela Danz’ ›flammneuem‹ Gedichtbuch V find ich die Verse wir treten leis in die Remise und rücken / was dort rostet vorsichtig ins rechte Licht …) Genug gerostet. Andres ist angesagt: In Jürgen Beckers Gedicht Feature aus Versnetze hör ich, wie es ›raschelt‹ und ›Rolladen runtergehn‹: Wintergewitter und Seitenzahlen für leere Seiten / Raschelt es, sind es die Tauben im Laub / Kirschen kannst du nicht pflücken gehen / Rolladen runter und die Katze haut ab … Und – wann wird schon mal ein Gedicht in Rarotonga mit Rhythmus, Rhetorik von Richard geschrieben? Ich find’s in Versnetze_fünf:
Überlieferung für Michael Hamburger Chaos, das weite, gute, des Ozeans, Aus dem, äolisch, Inseln sich lösen; viel Später, zum ersten Mal, ein Sprechen, Diesseits des Chors, von den eignen Nöten. Alkäos, der von Stürmen, Seekriegen, sang, Ist, bis auf Trümmer, untergegangen; es Bleibt uns ein Rhythmus, träge, eilend, Leicht wie der Wind auf der Insel Lesbos. Hölderlin, auch gebrochen, vermochte nicht, Die hochgeschwungne Bahn zu vollenden; doch Noch in dem gelben Turm im Alter Fand er Asyl in Alkäos‘ Strophe. Hamburger, durch den Holocaust wurden die Lebensgrundlagen gründlichst zertrümmert dir; Darum dein Streben, alle Fäden, Alle Freundschaften intakt zu halten. Früh hast du jedes Versmaß der Welt beherrscht; Doch das Mißtrauen gegen Rhetorik ließ Karg deine Lyrik werden, schmucklos, Stimme verdrängter Natur dann schließlich. Im Krieg schon, sechzig Jahre lang, hieltest du Hölderlin fest die Treue; nicht deinen Wunsch, Sondern sein Metrum übertrugst du, Noch als er, spät, bei Alkäos Trost fand. Rarotonga, Cook-Inseln, August 2010öldeHölHä Richard DoveSammelband · Sandbank · Schatten · Schwermut · Spuk · Strom
Spuk Schatten stürzt auf Schatten hinter vorgehaltnen Händen hehres Gesicht Würgeengel auf den Gemahl der Einsamen Weißes Katzentier nur Hilfe gegen den Spuk Manfred Peter HeinIn den Anmerkungen zu Ivo Ledergerbers Gedichten in Besuch bei einem Freund les ich: Thomas von Aquin (um 1225–1274), Dominikaner, Theologe, Philosoph. Empfiehlt gegen Grübelei und Schwermut beten, weinen, erkennen, Gespräche führen, schlafen, sich freuen und baden. Baden, ja, in Wörtern baden, auch Versnetze befrein mich beim beinah ununterbrochenen Lesen der Gedichte von Grübelei und Schwermut, immer wieder schwappt eine Wörterwelle über mich hinweg, so daß ich, herrlich, den Boden unter den Füßen verlier, ich tauch ein und unter, wate durch Untiefen, ruhe auf Sandbänken aus, um mich doch schnell wieder in die Versfluten zu stürzen. Und da ist sie wieder, die nicht zu bremsende Leselust, die wegen allzuschlichter Gedichte auf dieser oder jener Seit, über die ich schnell hinwegles, nicht vergeht, zu stark ist der Strom swingender Sequenzen, wuchtiger Wörter, flotter Verse in vielen originellen Gedichten.
Tag · Takt · Tausendfüßler · Tiere · Titel · Trinker · tiptop · Triesen
dass Tiere bilderbuchreif oder wie aus dem Werbeprospekt einer Sekte um uns herum schleichen mit einem Lächeln auf den Lippen Lippen dass wir nicht aufhören uns langsam langsam Kerstin BeckerWährend ich über Words, like nature, half reveal and half conceal the soul within (Alfred, Lord Tennyson) sinnier, kommt die Post, und ich fisch Judith Schalanskys Bildungsroman Der Hals der Giraffe aus der Verpackung. Auf dem naturleinenen Cover ist neben Autor, Titel und Verlag die Röntgenaufnahme einer Giraffe ohne Kopf zu sehn, die Tennysons Diktum auf merkwürdig beeindruckende Art und Weise bestätigt. Ich leg das Buch zur Seite, greif zu Versnetze und begeb mich auf die Suche nach Tieren. Wo sind Die Made, wo Der Panther, wo The Raven, und – taucht gar eine Giraffe auf? Frappierend, gleich im ersten Gedicht der Anthologie – im landhundgeheul: nirgends – bietet Andrea Brincker Tiere in üppiger Fülle:
& ich sitze dort am fenster und ich werde den hund sehn, seinen aufgedunsenen körper im leeren rattenloch [kein ausstellungsthema] verlassne hütten in schuppen/schichten die tote katze unterm blechdach, sie hätte doch man zierte sichTatsächlich, da ist ein Panther. Ich entdeck ihn in einem Gedicht von Bertram Reinecke. Und dann geht es los: Im über weite Strecken auch immer wieder tierarmen Verlauf bevölkern Adler · Amselin · Archaeopteryx · Bär · Biene · Bussard · Drossel · Eber · Einhorn · Eintagsfliege · Eule · Fisch · Froschkönig · Gecko · Giraffe · Hahn · Haustier · Hering · Hummel · Imme · Insekten ∙ Juravenator · Käfer · Kakerlake · Kanarienvogel ∙ Kinderschaf · Kniekehlchen · Kolibri · Kolkrabe · Korallen ∙ Krähe · Kranich · Krokodil · Kuckuck · Kuh · Larven ∙ Lachs · Laich · Libelle · Löwe · Mammut · Maulwurf · Meerschweinchen · Meise · Menschenaffe · Mondfisch · Möwen ∙ Nachtigall · Nashorn · Nerz · Pirol · Pythia · Rabenkrähe · Reh · Reiher · Rind · Rohrdommel · Säugetiere ∙ Schaf · Schäferhund · Schildkröte ∙ Schlange · Schmetterling · Schnecke · Schwalbe · Schwan · Silberfisch · Sperling · Spiegelflügler · Spinne · Süßwasserforelle · Tanzbär · Tapir · Taube · Tausendfüßler · Termite · totes Tier · Tucan · Turteltaube · Vogel · Vögelchen · Vöglein · Wacholderdrossel · Wolf · Zebra · Zebrafisch · Ziege · Zikade ∙ Zwerchkaninchen und andres Getier in immer wieder verblüffenden Konnotationen, Kontexten und Korrespondenzen unter Aufsicht des Tierbändigers in Frank Schablewskis Gedicht den Versnetze-Zoo.
Triesen Geruch gärenden Geldes, verdächtige Kühe. leise Gesten des Steinbrechs. die Hügel führn den Tag hinters Licht auf lauter Straßen. am Kreisel küssen sich, in Anfällen limegelben Widerscheins, recht leidenschaftslos die Busse. geschlendert wird nicht die Straßen sind lang, mit querverlegten Horizonten alles so wohlbetoniert. so im Takt. die frühen Trinker im Café: aus den Poren der Zeit gepreßte Bauern deuten sie auf die Vorgärten: tiptop gepflegt deuten sie auf den Himmel: der hängt an der Dialyse deuten sie auf die Jugend: die dort skatet, tiefe Züge inhaliert vom ewigen Frittierfettdunst des McDrive wie die Jugend in aller Welt, auf den beschlagenen Bildern unserer geliebten Überwachungskameras Stan LafleurUhrzeigersinn · Ulysses · übergroße Übertreibung
Auch die Leidenschaft für Gedichte ist eine maßlose Übertreibung der Gefühle. (Gerd Sonntag)
So what? Ich leb schließlich nur einmal, und bei all den Kümmernissen des Daseins, die mich immer und immer wieder herunterziehen wollen (wohin, frage ich mich, wohin), genehmig ich sie mir, dreimal täglich, wenn’s sein muß, gern aber auch rund um die Uhr, diese »maßlos übertriebene Leidenschaft für Gedichte«. Ich gönn mir ja, ehrlich und Hand aufs Herz, sonst nichts (außer der vergleichbaren Leidenschaft für Romane). Nach der Lektüre von Versnetze ist es wieder soweit, und Mrs Columbo kommt angerast, um zu sehn, was denn nun schon wieder los ist, als ich offenbar wild geworden durch die Bude hops.
officer ulysses mit der weichen handschrift streut zucker auf den cappuccino. im uhrzeigersinn sinken die kristalle in die haube von schaum. übergroße braune tasse. ist er denn nicht im dienst wie kann er sich ritual leisten & das vor allen leuten. zuhause die klamme wäsche. sein trockner funktioniert nicht, stromausfall. aber zurück wünsche er sich nicht. endlich sei der hund gefangen. die lautstärke, wenn er tobte. habe sich im dorf aufgehalten bei cousins. ja, das sehe denen ähnlich. einer schneeflocke beim schmelzen auf meiner fingerkuppe zusehen. beistehen bei der auflösung einer komplizierten form in einfacher, überall erhältlicher wärme. ulysses sucht die ausländische frequenz, eine art muezzin ertönt. leiergesang auf die kaputte stadt, in die wir nicht mehr kommen. ulysses wischt sich schaum aus dem schnurrbart. Vesna LubinaVersnetze · Vernetzung · Verbindung · Vorlauf · Vorwort
Der Vernetzungsgrad berechnet sich, indem die Zahl der Interaktionspartner und damit der überhaupt möglichen Interaktionen zur Zahl ihrer tatsächlichen Interaktionen in Beziehung gesetzt wird. (Wikipedia)
Versnetze schafft großräumige Verbindungen im deutschen Sprachraum und darüber hinaus: Die Vernetzung der Generationen und Regionen ist wieder, jeweils mit dem jüngsten Autor beginnend, großräumig nach Postleitzahlbereichen vorgenommen worden – vom Osten (0/1) über den Norden (2/3), Westen (4/5), Südwesten (6/7) bis in den Süden bzw. Südosten (8/9). Das finale Versnetz »Kleiner Grenzverkehr« enthält neue Gedichte von deutschsprachigen Lyrikern aus Österreich, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Finnland und den USA.
vorlauf im vorlauf aller wege rückwärts nach rom spur der steine liegen gleise blind in gräsern bodengeländer eines marsches, im sucher des nachtsichtgeräts zeigt die infrarotstrahlung das kommende futur geflickte zunge nächster track Elke CremerWir · Wasser (wahrhaft wahnhaft Wunderlich) · Wörter · Wörter · Wörter
Hin und wieder taucht Kastanie in Versnetzen auf, Kiesel oft. Auf der fortgesetzten, immerwährenden, unaufhörlichen Suche nach klingenden, lautmalenden singenden, summenden Wörtern · Wörtern · Wörtern in Gedichten, werd ich in Versnetzen immerfort fündig, stell 24 (uralte · brandneue) Wörter an dieser Stelle aus: Aschezeit · Brausepulver · Cocktail · Drosselschmiede · Erdreich · Fingerknöchel · Gespensterbirke · Haarbüschel · Implosion · Junischnee · Knospenknall · Lippenschneise · Muschelscherbe · Nadelkissen · Opferstein · Plüschsessel · Quecksilbersäule · Röhricht · Sonnenuntergangsaugen · Taudttenschtülle · Unzugänglichkeit · Vogelstimme · Wolkenbruch · Zwangsbeatmung. Und springe nun einfach – mit Vera Schindler-Wunderlich –
Ins Wasser Du meine Bewandtnis, wir saßen am Rhein, sprachen ins Wasser und zählten. Kronleuchter glühten grün am Ufer: fünfzehn, Kiesel elefantengrau: vier Hände voll, Arbeitsstunden: zahllos, Schiffe: den Bauch einst voll mit Römern, Germanen, Granit, Fleisch oder Holz. Und welche Bewandtnis hat es mit den feuerroten Kränen? Sie neigen sich, sie füllen die Zeit mit Figuren. Dreißig Kugeln Licht an der Decke, sagte ich, beschienen dreißig Sprecher und hundert vorübergehende Papiere pro Tiger im Saal. Man beugte sich und schwankte wie die Kräne: Ja, ja, hin und her! Und welche Bewandtnis hat es mit Anträgen, Schlüssen, Titeln und mit den hellen Kugeln? Es waren Kronleuchter, aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Fielen sie ins Wasser? Was sollten wir denn tun? Später der Himmel: als hätte man Möhren, Malven und Zitronen in Licht verwandelt, an die Decke geworfen und wieder hinab ins Wasser, auf dem Papierschiffe trieben.Zeit(-Wörter) · Zeiger · Zorn · Zwangsbeatmung · Zwischen den Zweigen
Zwischen den Zweigen / erscheint ein Gesicht / und verschwindet / für alle Zeit, les ich bei Clemens Schittko, Zeit nehmen für den russischen Tee, endet meine Michael-Hamburger-Hommage still he is turning. Der amerikanische Autor Paul Zimmer empfiehlt: I urge this upon young poets when they ask me: Be patient with your careers and with your poems. It is fatal to rush the process. Lesern von Versnetze und anderen Anthologien (oder dieses Essays), bei denen dieses Gedicht, jene Gewichtung, dieser Gedanke, jene Grübelei Ungutgefühle wie Unmut, Verdruß, Wut verursachen wollen, leg ich Theodor Fontanes Gutwörter ans Herz:
Überlass es der Zeit
Erscheint dir etwas unerhört, bist du tiefsten Herzens empört, bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit, berühr es nicht, überlaß es der Zeit. Am ersten Tag wirst du feige dich schelten, am zweiten läßt du dein Schweigen schon gelten, am dritten hast du’s überwunden; alles ist wichtig nur auf Stunden, Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter, Zeit ist Balsam und Friedensstifter.Was sind das für Versnetzzeiten? Windige Zeiten, les ich bei Marcus Neuert, bald ist teezeit bei Vesna Lubina, die Uhren tragen ihre Zeiger durch die Zeit bei Michael Wildenhain, in welche der zeiten / gerieten wir da bei HEL, die Zeit / pfeift / auf den Rollentausch / im Schwarzwald bei Mario Wirz, in Zeiten, / die Welt gemacht … bei Hans Weßlowski, gewickelt in Die Neue Zeit von gestern bei Christoph Kuhn, und wie die zeit sich verirrt, / zu irren vermag und wir bergen den tag vor der zeit bei Stefan Heuer, Zeichen aus Zeiten in denen das Wichtigste nicht geschah bei Julietta Fix, zeitgleich trafen sich / zum nachmittagskonzil / die stare bei Reinhard Kiefer, kein Schatten wies die Zeit bei Ludwig Verbeek, der Staub ruht für gewisse Zeit bei Tobias Falberg, die Zeitplanung zerbricht bei Sabine Römmer, um diese Zeit fällt draußen Regen bei Adrian Kasnitz, die letzte instanz der zeit schweigt und schickt seine brandung aus bei SAID, sich Zeit nehmen bei Ralf Thenior, ein fein strukturiertes Lichtbild im Zeitraum /der Farbe bei Jürgen Nendza, Die grau verwitterte / Unruhe der Zeit durchsichtig wie eine / Lüge bei Volker Demuth, aus den Poren der Zeit bei Stan Lafleur, obdachlose Zeiten und in dunklen Zeiten bei Horst Samson, beizeiten ableben bei Nikolaus Dominik, erregte Zeiten und am Drehkreuz der Zeit bei Manfred Peter Hein, die Zeit läuft hinter unseren Rücken ab bei Irena Habalik, ich stand als Zeitgenosse für die ZEIT und er war zu sehr an Zeit und Reim gebunden bei Dieter Höss, wir fanden nicht die Zeit bei Raymond Dittrich, die Totzeit aus Zählrate minus / Zukunft bei Barbara Zeizinger, Scheiterhaufen als / Glühendes der Zeit / nachtumkämmt / zwischen Zinne und /Vergissmeinnicht bei Otmar Matthes, Zeit alles abzuspeichern bei dag-mar, die Maschen der Raum-Zeit zerriß bei Maximilian Zander, in der die Zeit mich / duldend vor sich schiebt bei Robert Schaus, das gedicht bannt nicht / deine zeit bei Christoph Leisten, und meine Sinne, /die du alle Zeit / betörst mit deinem Scheitel bei Jürgen Völkert-Marten, von urzeitlichem Getier bei Melanie Arzenheimer, termitenzeit bei Rainer Komers, Kerl, sie füllen die Zeit mit Figuren bei Vera Schindler-Wunderlich, im Glast Aschezeit unter den Füßen und zerrinnt die Zeit der Tauben im Nachtregen bei Willi Achten, reden in dieser / beispiellosen Zeit bei Brigitte Fuchs, dreht sich die zeit um bei Andreas Noga, es ist längst Zeit bei Peter H. Gogolin, verflüssigt die Zeit / zu Wasser bei Frank Schablewski. So vergeht, verweht die Zeit beim Lesen der Gedichte, die Axel Kutsch in Versnetze zu einem großen Ganzen versammelt. Und indem ich mich, die letzten Sätze schreibend, kaum verharrend, Essay, Lesern adieu zu sagen, in Luft aufzulösen beginn, dem Gedicht das letzte Wort, das weite Feld überlassend, taucht ungefragt, stracks aus dem Nebelnichts, schließlich noch die nun nicht mehr zu beantwortende Frage auf: Vielleicht ist Leben, Lesen, Lyrik, letzten Endes, wie Danilo Pockrandt in einem Gedicht in Versnetze behauptet, ›nichts‹ als bloß: Täuschung // Dieser Tag war Zwangsbeatmung / war das verlöschende Licht / in den Zweigen, vorm Haus / die Plakate, die Radiostimmen / jodelten weiter: ja wir sind klein / wir leben in unseren Köpfen / dünsten dreimal die Woche /Gemüse – nach dem Verstummen / wurde untergepflügt, roch / weit im Festland seltsam / nach Meer
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Anmerkung der Redaktion: Theo Breuers Porträt ist der zweite Teil des Essays Axel Kutsch spannt Versnetze übers Wortland und erschien zunächst in Matrix 36, die sich schwerpunktmäßig dem Lyriker und Herausgeber Axel Kutsch widmet; nach der Würdigung Friederike Mayröckers (Matrix 28) und dem Sonderband zu Hans Bender (Matrix 29) ist Matrix 36 die dritte von Theo Breuer edierte Matrix-Ausgabe.