Vorläufiges lautet, betont schlicht und einfach, der Titel jenes ersten Bändchens, dem bislang, wir schreiben das Jahr 2014, in dem Axel Kutsch, wenn ich richtig rechne, 69 wird, 69 – eine rundum runde Zahl, eine Zahl zum Lieben schön, zehn weitere Gedichtbücher gefolgt sind, von denen vor allem Wortbruch sowie Ikarus fährt Omnibus besondere Beachtung gefunden haben. Die freimetrische und reimlose Lyrik der ersten Gedichtbände aus den 1970er/80er Jahren ist von einem zeit- und gesellschaftskritischen Ton geprägt, der nach 2000 gelegentlich auch wieder Eingang in die Verse von Kutsch findet. Seit den 1990er Jahren sind die Gedichte spielerischer, ironischer, unernster geworden. Kutsch erweist sich als Meister des zustechenden Verses, der im Gewand geschmeidiger Harmlosigkeit immer wieder ätzende Wirkung auslöst:
Unter Kollegen
Immer wenn’s regnet,
schreibe er ein Gedicht.
Bei Sonnenschein,
sagt er, schreibe er nicht.
Ich möchte ja
nicht gehässig sein.
Ich wünsche ihm
immer Sonnenschein.
Kritische, garantiert moralinfreie Spurenelemente gehn auf subtile Art im Amalgam des liedhaft gereimten, zumeist kurzen, oft in Strophen mit vier Versen abgeteilten Gedichts auf und rufen so einen noch stärkeren Effekt hervor als die politisch engagierten frühen Gedichte mit ihrer klaren Botschaft. In Wortbruch und Ikarus fährt Omnibus mündet das leichtfüßig rhythmisierte, klangvolle Gedicht immer wieder in funkensprühende, ironisch gebrochene und Heiterkeit auslösende Metalyrik, über die vor allem Kraus sich kaputtlacht. Kutsch provoziert in den Versen und Strophen die Konfrontation mit dem Gedicht, dessen grundsätzliche Existenzberechtigung als Artefakt infrage gestellt wird, um diese mit jeder Strophe um so energischer zu bejahen. In doppelbödig angelegten, konterkarierenden Versen, die oft auf verblüffende Pointen hinauslaufen, sucht er den Dialog über das Gedicht. Dabei werd ich mit arglos und naiv wirkendem Reim oder hübsch anzusehender visueller Poesie auf den lyrischen Leim gelockt, bis mir jedes lustige Hören und idyllische Sehen vergeht. Die Welt wird unablässig auf den Kopf gestellt, gerät konsequent aus den Fugen. Eisberge gehn unter, während die Titanic mit vergnügten Passagieren im Hafen von New York einläuft. Wer sich auf die Gedichte einläßt, kann bereits nach der Lektüre weniger Wörter an die Abgründe deutscher Geschichte navigiert werden. In der Auseinandersetzung mit Dichtern verschiedenster Herkunft – Gottfried Benn, Emily Dickinson, Joseph von Eichendorff, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Eduard Mörike, Walther von der Vogelweide, William Carlos Williams u. a. – sowie der Beschäftigung mit lyrischen Traditionen zeigt der passionierte Lyrikleser Kutsch, wie produktiv die Rezeption von Gedichten sein kann. Er demontiert Wörter und Verse ganzer Gedichte, setzt sie neu zusammen, konfrontiert mich unvermittelt mit althochdeutsch, nordisch, slawisch klingenden Tönen, wobei die ›neuhochdeutsche Übertragung‹, auf den Kopf gestellt, gleich mitgeliefert wird. Augenzwinkernd, lakonisch, verschmitzt ködert mich Kutsch in allen elf Büchern (die, notabene, mehrheitlich im Verlag Ralf Liebe erschienen sind), die gemeinsame Entdeckungsreise in die Gedichte zu wagen, Hohlräume abzuklopfen, Zwischentöne wahrzunehmen, exotischen Klängen zu lauschen, im alltäglich Banalen Erhabenes zu gewahren. Lesen Sie selbst:
Vorläufiges ∙ 1974
Aus einem deutschen Dorf ∙ 1986
In den Räumen der Nacht ∙ 1989
Stakkato ∙ 1992
Doppelt laut ∙ mit Rainer Rubin ∙ 1993
Zerbissenes Lied ∙ 1994
Einsturzgefahr ∙ 1997
Wortbruch ∙ 1999
Fegefeuer, Flamme sieben ∙ 2005
Ikarus fährt Omnibus ∙ 2005
Stille Nacht nur bis acht ∙ 2006
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Anmerkung der Redaktion: Theo Breuers Porträt ist der zweite Teil des Essays Axel Kutsch spannt Versnetze übers Wortland und erschien zunächst in Matrix 36, die sich schwerpunktmäßig dem Lyriker und Herausgeber Axel Kutsch widmet; nach der Würdigung Friederike Mayröckers (Matrix 28) und dem Sonderband zu Hans Bender (Matrix 29) ist Matrix 36 die dritte von Theo Breuer edierte Matrix-Ausgabe.
→ Eine weitere Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland steht als eBook zum Download bereit.