Die Poesie steht uns näher als die Politik, und sie ist uns so wesenhaft wie Gehen oder Essen.
Ben Okri
Das Buch empfängt meinen Blick aufs matt gestrichene Titelblatt als Erinnerung an eine überdimensionierte postalische Sendung aus der DDR, eine rotblaugelbschwarzweiße, geradezu prächtig zu nennende EineMarkBriefmarke mit hermetisch karger (SicherheitstraktAnmutung) Berlinarchitektur, allerdings mächtig beschienen von rot grundierter HammerSichelSonne – alles auf weißem Covergrund. Der abschweifende Blick ins Netz meldet: Erschienen zum 20. Jahrestag der DDR, abgestempelt am Tag des Mauerfalls. Doch trauschau: Logo des Verlages, bescheiden kleingedruckter Name des Verfassers und Gattungsbezeichnung des Buchinhalts suggerieren: Dreh den 500-Seiten Schmöker doch mal um!
Da rät Dir Philip Boa aus Malta gleich zu Beginn: „Mehr Literatur ins Leben, mehr Leben in die Literatur“. Da hat einer die Meßlatte aber verdammt gleich oben angesetzt, da springt dir aus der Mitte Deines immer verschwiegenen Arbeitsethos der Jargon der Uneigentlichkeit ins heutige Thema Deiner Rezension, die Du „fast ganz“ ohne das Werk durchzuackern bewerkstelligen willst. Beim losen Durchblättern und dann doch Passagenlesen drängt sich mir mein früh beharrtes „Berufsethos“ auf: „Die Sprache soll nicht Wirklichkeit transportieren, sie soll ihre eigene Wirklichkeit schaffen.“ Eine Parallelwelt, würde man vielleicht heute sagen. Ist das „Sammelgebiet“ eine solche?
Ich erfahre etwas über Zeitraum und Raumzeit des Romans, beides mir sehr erinnerbar und vertraut: Zwischen dem 9. November 1989 und Mitte März 1990 bewegte ich mich per Straßenbahn und per pedes durch den Ostteil Berlins, lauschte fassungslos den ersten hasserstickten Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Türkenbürgern im S-Bahnterrain des neuen Ganzberlin, tockerte per Zug durch das Berliner Hinterland bis nach Pasewalk, lustwandelte glücklich und wiederum fassungslos mit Kühl- Koch- und TV-Geräte schleppenden neuen Mitdeutschen über die Kreuzberger Oberbaumbrücke und ließ meine Passagen immer wieder neu im Pass einstempeln. Dann aber verschwand ich in einem kleinen, kaum zugänglichen Ort in Portugal und tauchte erst wieder im März des Folgejahres in einem Land mit fremdvertrauten Strukturen, im Gepäck Collagen mit Titeln wie „Kein Deut Schland“ oder „Wir sind DasEin Volk“ in zynisch-heideggerischen Spekulationen. Wie ich später erfuhr, war ich nicht die Einzige, die ab jetzt dem Namen des Geburtslandes neue Sichtweisen abverlangte.
Die Spielorte des Romans sind mir lückenlos vertraut: Düsseldorf als Geburtsstadt, in der ich die entscheidenden 10 Lebensjahre verbrachte, die Hauptstadt der DDR als einstige Stadt jugendlicher UrAngstAbenteuer, Paris als Entfaltungsort glücklicher Fügungen für Arbeit und Leben, Rügen heute schließlich als Insel für kleine Alltagsfluchten und gezähmte Gespräche über alle Arten von Kunsttun – die 2015 einen Ort für die nächste Ausstellung bereithält.
In den ersten Minuten der weitgehend haptischen Buchaneignung fragte ich mich, was dem angesagten komplexen Zeitraum noch hinzuzufügen sei, raumzeitgreifend zwischen zwei Buchdeckeln, wie kann man`s fassen, was seit 1989 in tausende von Richtungen sich fortorientierte und uneinsammelbar zersprengte, sich kosmisch-dramatisch verdichtete?
Aber es m u s s erzählt werden, nicht um das Geschehene abzuschließen sondern mit der Ausdehnung des Erzählten den Abstand sicher zu stellen.
Spätestens jetzt kann ich den Autor nicht weiter außen vor lassen, A.J. Weigoni lernte ich 1991 in einem Workshop in Unna kennen. Es ging um visuelle, konkrete, experimentelle Poesie, wir waren zu dritt oder viert, ich hatte mich ausgiebig vorbereitet. Meine wenigen Teilnehmer und ich stellten sehr schnell fest, dass man die Literatur, die wir „meinten“ sprachlich so nicht behandeln konnte, wollte, durfte. Wir nahmen Abstand von diesem nervigen Stempel des „Experimentellen“ für eine Literatur, die, wenn sie es ernst meint, immer experimentiert. Ich ließ meine Vorbereitungen fahren und wir stellten uns mit unseren Arbeiten vor, hatten Spaß dabei, so zumindest meine vage Erinnerung an einen irgendwie blassblauen Ort wie Unna, über den ich in den 2 Tagen über die rührigen Existenzen von Kunstverein und Stadtbibliothek hinaus kaum etwas erfuhr – bis heute nicht. Im Workshop gab es neben A.J. Weigoni Namen wie Jürgen Wiersch, Marcel Beyer, Norbert Hummelt, Enno Stahl, Namen, die aus der Literaturszene nicht mehr wegzudenken sind. Soweit ich erinnere, endete das Ganze mit einer eher chaotischen öffentlichen Lesung unter der Ägide des – das erinnere ich ebenfalls – stets großzügige Honorare zahlenden Literaturbüros Ruhr aus Gladbeck. Damals war eine CD wohl noch etwas Besonderes, und Weigoni verpasste uns allen am Ende seine neuen Literaturclips von ihm und Frank Michaelis. Um ehrlich zu sein, spielte ich sie mangels eines eigenen Gerätes bei Freunden ab und blieb zunächst ratlos und etwas verschreckt, – waren es die Dialoge, die z.T. beziehungskistigen und dann wieder stark kopflastigen Inhalte, die für mein hörspielgeschultes Ohr willkürlich erscheinenden Geräuschkulissen, die keinen „Kick“ auslösten? Ich selbst hatte mit Tonbandexperimenten für RaumTextinstallationen begonnen, mit Eigen- und Fremdstimmen Nähe und Distanz in Sprechräumen auszuspielen. Wenn ich diese über 20 Jahre alte CD heute höre, nehme ich die Nähen wahr, die ich damals vermisste.
Selbst Anfang der 90er an die Ränder der Republik zurückgezogen, nahm ich den Autor jetzt zeitweilig an den Rändern wahr, hier und da im Netz und randständigen Anthologien – und auch er „machte seins“ am WortWerk, ohne Zugeständnisse und Inszenierungen an schale Avantgardebegriffe. Er setzte, ohne sich offenbar von szenemäßigen Begehrlichkeiten irritieren zu lassen seine Arbeit fort. Das besaß/besitzt für mich mehr Realität als rasante Omnipräsenzen in der Medienachterbahn. Ich beneidete ihn, da er das realisiert hatte, was ich – noch bis in die Mitte der 90er hinein – begonnen hatte, was ich infolge Brotarbeitszwängen- (in den zudem nun aufblühenden Zeiten der Spoken-word-Performances) – abbrach: Das inszenierte, medienübergreifende Sprechen eigener Sprache. Ein großes Vorbild für mich war/ist der geniale transmediale Carl Friedrich Claus, den ich kurz vor seinem Tod in Rostock endlich persönlich kennenlernte – der kompromisslose, sich nie schonende Sprachperfomer, nein, Sprachforscher (mit seinen auf zahllosen Bänder gesprochenen, sprachlich oft extrem durchlebten „Artikulationen“) aus Annaberg -Buchholz- neben seinen Essays, Sprachblättern (Vibrationstexten)- Druck- und Zeichnungsarbeiten.
Dichterloh war denn das erste „richtige“ Buch von Weigoni, das ich in Händen hielt, las und in ihm einen enormen Geistesarbeiter entdeckte. In diesem Buch fand ich ein „Manifest“, wie ich vermutete, in dem Gedicht „Spiegelscherben“, da er sich, „die Luxusartikel Zeit und Charakter leisten(d)“ : „in singulärer Könnerschaft“ mit der Poesie als Kontinuum künstlerische Ordnung aus dem Chaos der Triebe destilliert“. Auf der Fensterbank eines Zuges fotografierte ich das Buch, das ich somit seiner räumlichen Verankerung enthob.
Auf Seite 4 des „Sammelgebiets“ lese ich, dass dieser Roman ein Produkt interdisziplinärer Medienarbeit (Kassetten, Videos), analoger Recherche (übersetzbar in: Unterwegssein, woanders sein, in richtigen Büchern nachschlagen, sprechen, leben) ja, ein Geisteskind der Mobilität ist : entstanden an wechselnden Förderorten DeutSchlands und der Niederlande über das Vierteljahrhundert Entstehungszeit hinweg. Ja, man kann so lange an einem – für einen selbst dann schließlich gelungenen – Werk arbeiten. Ich las denn doch sorgfältig das sehr gute Nachwort von Regine Müller durch: „Scheitern ist für ihn die Grundvoraussetzung für ein mögliches Gelingen“, so sie. Für Robert Musil ist „Scheitern der Normalfall“, was mir immer schon Rückrat verlieh, dann aber doch die Steigerung aus einer meiner Zeichnungen: “Vergeblichkeit ist nicht umsonst!“. Ja, das ist es, was uns weitertun, weiter forschen lässt.
Als auch Bildende Künstlerin ist mir und sicher vielen anderen der Begriff des „Malschweins“ für einen leidenschaftlichen, enorm arbeitenden Künstler vertraut. Ohne es noch einmal ausschreiben zu wollen und ohne dem Autor zu nahe treten zu wollen, sehe ich, in Bezug auf sein Schreiben, durchaus Paralleles, was auch seine (in Zusammenarbeit mit Sophie Reyer entstandene) rasante Wortspielhalle auf neuerer CD bestätigte. Sprachkosmen und komplexe Wortkonstruktminimalismen, Dis- und Exkurse in entfernte sprachphilosophische Gegenden und wiederum alltagstaugliche Sprachmutproben und auch der Mut zu Redundanz, Romantik, Kitsch und Trivialität zeigen: da geht einer mit dem Stoff der Sprache kosmopolitisch um, da durchwühlt sich einer durchs Urmaterial – entlang der eigenen Biografie, um nicht im wunderschön grotesk gefeierten Chaos, sondern in der Fassung immer wieder neuer Denkverläufe zu münden, landen, zu stranden, zu balancieren.
Ideologieresistenz, die Weigoni, wie ich willkürlich endlich das Werk aufschlagend lese, den Berlin-MITTE-Bewohnern zuspricht, scheint auch sein Ding zu sein, denn Sprache muss sich bei ihm nicht ideologisch abarbeiten. Die Erzählung selbst erreicht den Leser nicht über die üblichen Finalismen geglückter Entwicklungsmuster der Protagonisten. Das zu Erzählende wird in, wie es mir (fragmentarisch blätternd) scheint, reflektierten Sprachbildern vorangetrieben. Selbst schlüssige Dialoge verfliegen in Horizonten fernab moralinsaurer Dramatik. „Unvollendet dauert Vergangenheit fort“, lese ich, und ich weiß, dass auch ich immer genau dort anfange, zu schreiben. Bin ich nun mitten drin, im Roman als „Abgeschlossenes Sammelgebiet“? „Wenn die Mitte pariert als das Maß aller Mitten, wobei sie sich ständig verschiebt“, schrieb ich in Paris 1981.
Ich werde ihn lesen, den Weigoni-Roman, vielleicht „Geheimfächer des Geistes aufklappen“ (aus: Spiegelscherben) ihn hintereinander weglesen, diesen komplexen, sich selbst und die Sprache (zeitweilig?) aussetzenden EntwicklungsRoman in alle Richtungen existenzieller Verletzbarkeit, ohne Zugeständnisse an jene Erwartungen, die noch immer und immer wieder den zukünftigen ultimativen Wenderoman wie einen Heilsbringer hofieren.
Der Düsseldorfer Heinrich Heine schrieb in seinen Reisebildern einmal jenen Satz, der mich so entzückte, dass ich ihn zum Motto des Buches „Selbander“ erwählte, das vor langer Zeit in Zusammenarbeit mit dem Künstler Uwe Meier-Weitmar entstand und in der Züricher Edition Howeg erschien: „Nein , ich will auch dieſe Stelle offen laſſen, ſonſt werde ich ebenfalls citirt .“ Mich entzückte nicht nur das sich Offenhalten für ein Sprachereignis im Verzicht auf ein Zitat mittels eines Zitates, eines Satzkonstruktes, das in sich dem Zitatverzicht verschrieb, sondern auch die Schreibweise des „citirt“, die ich lautmalerisch in meinem Kopf ausfaltete und nachklingen ließ.
Auf Seite 3 des ersten Romans von A.J. Weigoni begegnet mir ein Karl Kraus-Zitat, dem ich ähnliche, vielleicht aber auch kontrapunktische Absichten unterstelle: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden: die grellsten Erfindungen sind Zitate“.
So überraschend muss Literatur sein.
Der Autor hat sein „Sammelgebiet“ entschiedenermaßen für sich abgeschlossen (wenn man etwas sammelt, kann man eigentlich nie damit aufhören, oder?) und für uns im Roman aufgeschlossen: Sind doch – nach meinem zweiten großen Vorbild Richard Weiner – „Wörter Dietriche, von denen jeder alles aufschließt, also eigentlich nichts; es gibt nichts abzubilden, denn das Bild, das zumindest an der Oberfläche einen Einbruch verübt hat, ist bereits ein allseits und sattsam bekannter Verbrecher; und nutzlos auch die Zauberformeln der mächtigsten Zauberer, bemühen sie sich, den Dingen ein Bekenntnis zu ihrer Dinghaftigkeit zu entlocken (sie dingfest zu machen); denn sich in ihr einzuspinnen schafft nur derjenige, der geschafft hat, sich von sich selbst loszusagen.“*
Ich wünsche diesem Roman – mit seiner Voraussetzung vieler Leser – viel Resonanz.
Unsagbar ist der tägliche Wortschatz wertvoll!
Angelika Janz, 29. Juli – 2. August 2014
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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.
Weiterhin von A.J. Weigoni erhältlich:
Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.
Zombies, Erzählungen, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Vignetten, Novelle, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
*.( “Der Bader, Friedenauer Presse 1991, S. 30)