Twitterie – Twitteritis – Twitterose

 

Mit der Sprache ist es eben so, wie es ist: Wir multilinguieren radebrechend unser Kauderwelsch und Pidgin-Technosprech im deutschen Satzgerüst, dass sich die Syntaxbalken biegen, bis es knirscht im Gefake. Eigentlich andererseits auch erfreulich, wie sich alles mischt und wie lang die Wörter in den Sprachen weiterleben. Mal sehen, wann die ersten chinesischen Wörter ins Deutsche fließen (abgesehen von Tee, Seide, Kuli, Kotau, Feng shui, Gingko, Litschi, Taifun, Wok, Yin und Yang …).

Gezwitscher, Shitstorm – auch das ist nun so gut wie etabliert. Hier aber sage ich: Leider. Denn die ins Computrige und Internette Verknallten kommen kaum noch raus in die Natur und richten sich zu sehr ein in der Armut ihrer vier Wände. Nicht abstreiten lässt sich, dass viel Gutes möglich ist mit Computer und Internet. Aber Gezwitscher trifft es gut. Es ist ein virtueller Kommentarismus, keine Diskussion, ein armer Schein-Diskurs, eine ‚direkte Demokratie’ auf dem Wege zur Ochlokratie. Ich kann nicht erkennen, dass dabei Gefühle und Sachverstand subtil gefiltert würden, so dass am Ende systemische Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme entstünden. Es bleibt, wie es immer war: ‚Mensch, werde wesentlich!‘ bleibt auch im Dünnschiss-Sturm die Zauberformel.

Alptraum: Dass die poetische Hochliteratur auf der Strecke bleibt im Vogelbaum der hingeschissenen Texte. Bin neulich von zwei Leuten, die sich für besonders intellektuelle Intellektuelle halten, belächelt worden, als ich Goethes „Wahlverwandtschaften“ als meisterhaften Roman rühmte. Ich befürchte, Poesie verliert ihren Rang, den sie als ahnende ‚Wissenschaft vom Leben’ und Bewahrerin und Gedächtnis unserer Seele immer hatte. Mir geht es so, dass ich die ältere Literatur, ohne die gegenwärtige diskreditieren zu wollen, umso mehr schätze, je älter ich werde. Den positivistischen Schlips- und Kostümträgern unserer Zeit fehlt die aufklärerische Durchdringung der Welt, so sehr mich technische Errungenschaften beeindrucken; ihr Produktionswahn und Egoismus sind mir zuwider. Jetzt, wo ich älter werde, wird mir die Langsamkeit wichtiger, und zum Glück kann ich sie mir leisten. Ein gnädiges Geschick hat mich noch hineingespült ins Digitale, so dass ich in den nächsten zwanzig Jahren werde mithalten können, was Schreiben und Alltag angeht.

 

 

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Weiterführend →

KUNO hat in diesem Jahr unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem ersten Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde.