Erinnerungen trügen, wenns der Kalauer gestattet: besonders auf Rügen. In der Rückblende scheint alles schlüssig: als Herstellung der Einheit Deutschlands wurde durch die sogenannte friedliche Revolution in der DDR angestoßene Prozess der Jahre 1989 und 1990 bezeichnet, der zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 führte. A.J. Weigonis erster Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet beleucht ein historisches Narrativ, das Generationen von Menschen vereint und trennt. Es sind Erinnerungen an die alte BRD und die verloschene DDR wie unter einem Glassturz, lange konserviert und durch die Wiedervereinigung sehr fern gerückt. Das Schweigen, das diesen Roman umhüllt, zu brechen, ist nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer Verständigung. Bei diesem Roman geht es nie darum, die Weltanschauungen dieser Grüppchen oder Einzelnen auf Schlüssigkeit zu untersuchen, sie zu rechtfertigen oder zu verwerfen, sondern um die Spannungen, die zwischen politischer Arbeit und menschlichen Beziehungen entstehen; um die Frage, was aus Ideen und aus Liebe wird, wenn Menschen sich aus Enttäuschung verhärten und es ihre Mitmenschen spüren lassen. Am Ende sind alle nebeneinander und nacheinander Waisenkinder der Revolution, Bewohner der Sackgassen ihrer Utopien. Appelle lassen sich daraus nicht ableiten, eine Abrechnung ist das Buch jedoch nicht.
Richtungweisend für diese Entwicklung war die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989, die den endgültigen Zerfall des politischen Systems der DDR bewirkte. Notwendige äußere Voraussetzung der deutschen Wiedervereinigung war das Einverständnis der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die bis dahin völkerrechtlich noch immer die Verantwortung für Deutschland als Ganzes innehatten beziehungsweise beanspruchten. Durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde der Einheit der beiden deutschen Staaten zugestimmt und dem vereinten Deutschland die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten zuerkannt. Weigonis Roman zeigt auf, daß sich das Werk eines Schriftstellers nicht auf die griffige Formel des „instant décisif“ reduzieren läßt. Den Titel Abgeschlossenes Sammelgebiet hat sich Weigoni bei den Philatelisten geborgt. Mit dem Erscheinen der ersten gesamtdeutschen Briefmarke beginnt die sorgsame Reinigung der archäologischen Bruchstücke. Aus diesen Fragmenten rekonstruiert der Romancier eine Gesellschaft in Aufbruch und Unruhe. Seine Ironie zielt in die Richtung einer Wirklichkeit, in der man sich lächerlich leicht verblenden läßt und ein eigener Weg möglich ist, auch wenn sie die Jugend als besonders klug, das Alter als weise, der Massengeschmack als besonders bunt tarnt. Mit der Leichtigkeit des Episodischen entwirft Weigoni ein luftiges Zeitmosaik, in dem Kurioses und Kühnes neben wegweisender Modernität und ärmlicher Verschränkung erscheint. Bisweilen geraten die Dinge zu ernst, um als bloß Anekdotisches durchzugehen. Man muss seine reich komponierte Prosa wirken lassen, beiseite legen und noch einmal von vorn anfangen. Danach weiß man besser, was diese Zeit der kulturellen Blüte war und was daraus wurde. Man kann sich diese Weisheiten natürlich ersparen, dann entgeht einem aber ein virtuoses Sprachkunstwerk – und ein bitteres Gedankenexperiment. Brillanter kann Verzweiflung nicht sein. Lesen und Nichtlesen sind ebenfalls Zwillingsschrecken.
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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.