Das Tolle an amerikanischen Essayisten ist: Die schreiben nicht als Theoretiker, sondern als Liebhaber über ihren Gegenstand.
Thekla Dannenberg
Robert Warshow war ein Essayist, Filmkritiker und Kulturtheoretiker, der beinahe vergessen ist. Er lebte in New York und schrieb über Film und Massenkultur für ‚Commentary‘ und ‚The Partisan Review‘. Geprägt von den intellektuellen Debatten und ideologischen Gräben der Dreißiger, den Auseinandersetzungen zwischen den kommunistischen Volksfront-Bewegungen und der Reaktion der McCarthy-Ära, publizierte er als ›antikommunistischer Linker‹ in den Vierzigern und Fünfzigern im Zweifrontenkrieg gegen den Stalinismus und McCarthyismus. Gemeinsamer Bezugspunkt der thematisch breitgefächerten Texte zu Film (vornehmlich Gangsterfilm und Western), Massenkulturphänomenen wie Comics, Theater und Literatur dieses außerordentlichen kritischen Temperamentes ist sein Festhalten an der ‚unmittelbaren Erfahrung‘ als Korrektiv ideologischer Verirrungen und integraler Bestandteil der Kritik.
Das Kino, und besonders das amerikanische, steht im Zentrum jenes ungelösten Problems der „Populärkultur“, das die Kritik immer wieder in peinliche Verlegenheit bringt und das sich all unseren Bemühungen aufdrängt, den Charakter unserer Kultur zu verstehen und unser eigenes Verhältnis zu ihr zu bestimmen. Dass dieses Verhältnis überhaupt einer Bestimmung bedarf, ist genau der Kern des Problems. Kulturell sind wir alle „selbstgemacht“, wir schaffen uns selbst, indem wir angesichts der immensen Vielzahl sich darbietender Anregungen eine Auswahl treffen. […] Meiner Meinung nach ist eine Kritik der Populärkultur dringend erforderlich, die guten Gewissens deren tiefgreifende und verstörende Kraft anerkennen kann, ohne die überlegenen Ansprüche der höheren Kultur aus dem Auge zu verlieren.
Bewarb sich Robert Warshow mit dieser Skizze um 1954 um ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung
Zu den Artikeln, die in Warshows kurzer Lebensdauer veröffentlicht wurden, gehörten „The Westerner“ und „The Gangster as Tragic Hero“, Analysen des westlichen Films und des Gangster – Filmgenres unter kulturellen Gesichtspunkten. Er schrieb auch Essays, in denen er den Dramatiker Clifford Odets sowie George Herrimans Zeitungscomic Krazy Kat lobte. „Der ‚Idealismus‘ von Julius und Ethel Rosenberg“ zeigte die hingerichteten amerikanischen Stalinisten in einem brutal ehrlichen Licht. In einer Kritik an The Crucible Warshow wurde argumentiert, dass Arthur Miller kein so kompetenter Dramatiker war, wie man es wahrnahm. Nach Fredric Wertham und Gershon Legman war Warshow der erste ernsthafte Kritiker, der über EC Comics und sein Mad-Magazin schrieb, wenn auch aus einer gemessenen und zweideutigen Perspektive.
Nachdem ich 1958 den Text „Der Westerner – ein amerikanischer Mythos“ von Robert Warshow gelesen hatte, veränderte sich meine Einschätzung des Western-Genres fundamental. Was ich bis dahin nur naiv bewundert hatte, bekam plötzlich ein theoretisches Fundament.
Hans Helmut Prinzler
Warshow starb bedauerlicherweise bereits im Alter von 37 Jahren an einem Herzinfarkt. Die meisten seiner veröffentlichten Arbeiten wurden 1962 in dem Buch The Immediate Experience gesammelt. Eine erweiterte Ausgabe wurde 2001 von Harvard University Press veröffentlicht. Die vorliegende Anthologie vereinigt alle Film-Texte Warshows sowie weitere Essays, die er zu einer Reihe verwandter Aspekte der Populärkultur in Amerika geschrieben hat. David Denby zur amerikanischen Neuausgabe in 2002, der die deutsche Übersetzung folgt):
‚Auf Grundlage von genau elf […] kritischen Essays über den Film wird […] Robert Warshow seit langem zu den besten amerikanischen Filmkritikern aller Zeiten gezählt. Ich habe nicht die geringste Schwierigkeit, ihn in jenen kleinen journalistischen Pantheon zu heben, zu dem Gilbert Seldes, Otis Ferguson, James Agee, Mann Farber, Pauline Kael und Andrew Sarris gehören. Sieben Jahre nach Warshows Tod wurden die elf Texte zusammen mit seinen Artikeln über Literatur, Theater, Comics und linke Kultur in dem Band ‚The Immediate Experience‘ zusammengefasst.
Selten wurde jemand, der so wenig geschrieben hat, so oft zitiert und in Anthologien aufgenommen. Die vorliegende Ausgabe ergänzt den ursprünglichen Text um acht bisher nicht enthaltene Buchbesprechungen. Hinzugekommen sind damit ein bewegender Artikel von Warshow über Kafkas Tagebücher, bissige Bemerkungen über Gertrude Stein und Ernest Hemingway sowie mit einem Stück über Scholem Aleichem eine kurze, aber enorm nützliche Definition von jüdischem Humor. Die Lektüre wird zeigen, dass Warshow erfundene Geschichten liebte, selbst ganz schlichte: die schmerzlichen Zusammenstöße von Chaplins Tramp mit der Gesellschaft um ihn herum, die herrlich redundanten Abenteuer von Krazy Kat, die unterschwellig moralischen Grundzüge der Western und Gangster-Filme. Doch Warshows Vorliebe für Fabeln – allgemein seine Liebe zu Filmen – war einer historisch schwer belasteten Vorgeschichte abgerungen [und] verband sich mit jener düsteren Grundstimmung, die viele amerikanische Intellektuelle in den 40er und 50er Jahren teilten. Warshow und seine Kollegen hatten die Vernichtung der europäischen Juden erlebt und den mörderischen Verrat am Idealismus durch die Sowjetunion. Vielleicht konnte die Illusion nur von einem Autor in der Mitte des Jahrhunderts auf so kraftvoll desillusionierte Weise gefeiert werden.
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Die unmittelbare Erfahrung: Filme, Comics, Theater und andere Aspekte der Populärkultur aus dem Amerikanischen, Essays von Robert Warshow, übersetzt von Thekla Dannenberg. Vorwerke Taschenbuch. 2014
Weiterführend → KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.