ein Beitrag im Sinne von Herrn Nipp
Da saßen damals in den frühen siebziger Jahren einige Kinder bei unseren Nachbarn auf der Stufe zum Eingang. Unter dem kleiner Portikus konnte sich locker mal eben eine ganze Schar einfinden, jeder auf dem angestammten Platz, manchmal versuchte der eine oder andere sich auch einen neuen zu ergattern. Die üblichen kleinen Hahnenkämpfe unter Kindern. Rangfolgen werden oft schon im Vorschulalter festgelegt und halten sich bis ins hohe Alter. Dieses Mal war alles anders als sonst. Zirka zehn Blagen (so würde ich sie heute titulieren) aus meiner Nachbarschaft in meinem Alter. Ich war es gewohnt, nach draußen zu kommen und dort meine Freunde beim Spiel zu finden. Meistens mit einem Ball oder mit Steinen und Kreide. An diesem Tag aber war alles neu. Da war kein Geschrei zu hören, nicht das übliche Ticken des Balls auf dem Boden oder an die Garagentore der Nachbarschaft, kein Quietschen der Mädchen, keine Anfeuerungsrufe, die Straße war tatsächlich leer, obwohl doch niemand sein Auto in unser übliches Spielfeld auf der Straße geparkt hatte. Da wurde nicht abgezählt oder angezählt, da liefen keine Kinder möglichst heimlich zum Anschlagplatz des Versteckspiels. Nein. Sie saßen da dicht gedrängt auf dieser abgewetzten Steinstufe des Zwanziger-Jahre-Hauses meiner direkten Nachbarn. Sie waren sehr zufrieden, als ich dazukam. Sie hatten geradezu schmerzlich verzückte Gesichter. Sie schmatzten und stippten immer wieder mit dem Zeige- oder Mittelfinger in das kleine, bunte Tütchen mit dem Fahne schwenkenden Matrosen. Ein einladendes, ein harmlos begeistertes Gesichtchen dieses kleinen blauen Jungen mit dem seltsamen Hütchen, welches heute wie eine Karikatur auf die Propagandabilder des sozialistischen Realismus wirkt.
Einige schütteten sich den Inhalt der Tütchen vorsichtig direkt auf die Zunge, immer das Gesicht verziehend, aber auf jeden Fall voller Begeisterung. Dieses Kribbeln auf der Zunge. Eine Geschmacksexplosion, Chemie pur. Ich weiß nicht mehr, wer das Zeug mitgebracht hatte, ich kann mich dafür an den ersten Moment erinnern, als wäre es heute. Was für ein Erlebnis, das erste Mal, dass mir Synästhesie bewusst wurde, ohne das Wort zu kennen. Es wurde schnell zu unserem beliebtesten Suchtmittel der Kindheit, neben Salinos und Lakritzschnecken und den unvermeidlichen Leckmuscheln. Eigentlich wohl dazu konzipiert, sich selber Limonade in allen erdenklichen Geschmacksrichtungen herzustellen, nutzten wir die Brause als Süßigkeit, als Schnuckelsache. Wir konnten stundenlang über die Geschmacksrichtungen philosophieren. Meine liebste Sorte war natürlich Waldmeister.
Vor einigen Jahren entdeckte ich Frigeo Ahoj-Brause wieder. Inzwischen hatte sich mein Geschmack wohl etwas verändert, denn am besten schmeckt nun Himbeere, noch künstlicher anmutend als damals.
Meine Kinder waren noch klein und so fanden einige Packungen den Weg vom Einkaufswagen in die Ferien. Auch in den frühen zehner Jahren dieses neuen Jahrtausends funktioniert das einfache Prickeln trotz all der Medien, welche die Kinder heute nutzen, um zusammen zu kommen, nicht auf der Straße, sondern virtuell. Medien und Möglichkeiten, die wir uns in den Siebzigern nicht hätten ausmalen können, noch immer aber funktioniert das direkte Erlebnis aus Geschmack, Geruch und Fühlen, das beruhigt.
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