Für die deutsche literarische Öffentlichkeit ist er spätestens seit 2007 der Inbegriff eines irischen Schriftstellers geworden. In diesem Jahr erschien Hugo Hamiltons „Die redselige Insel. Irisches Tagebuch“, eine Huldigung auf Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ aus dem Jahr 1957. Der 1953 in Dublin als Sohn einer deutschstämmigen Pilgerin und deren stockkatholischem Ehemann Geborene sprach, neben Irisch, das in der Familie aufgrund der patriotischen Haltung des Vaters gesprochen wurde, seit seiner frühesten Kindheit auch Deutsch, das er von seiner Mutter erlernte. Erst im Umgang mit seinen Schulkameraden eignete er sich das Englische an.
Hamilton, der sich vom Journalisten und Autor von Kurzgeschichten zu einem erfolgreichen Romancier entwickelte, gewann vor allem mit den beiden Erinnerungsbänden „Gescheckte Menschen“ und „Der Matrose im Schrank“ internationales Renommee. Es ist seine dialogische Erzählweise, der ständige Wechsel von der Ich- zur personalen narrativen Perspektive, die den Leser auf eine eigenwillige Weise anzieht. Er wird, wie auch in „Jede einzelne Minute“, immer wieder von der erzählten Story in eine von Vermutungen und Ahnungen geprägten anderen Erzählung gelockt. So wie in dem Plot, der aus der Perspektive eines Ich-Erzählers seine Flugreise von Dublin nach Berlin mit anschließendem kurzen Besuch in der Hauptstadt Deutschlands beschreibt. Er ist in Begleitung einer schwer an Krebs leidenden Schriftstellerin, die sich Úna nennt und unter der Obhut ihres langjährigen Bekannten Liam noch einige angenehme Stunden verleben möchte. Úna, eine eigenwillige, in ihren Stimmungen oft schwankende Person, hinter der sich, wie Elke Heidenreich in ihrem kenntnisreichen Nachwort aufklärt, die irische Autorin Nuala O’Faolain verbirgt, die Hamilton 2008 auf einer Berlin-Reise begleitete. Es ist ein seltsames Paar, das sich im Mietwagen und dem von Liam geschobenen Rollstuhl durch Berlin bewegt und sich unentwegt Geschichten erzählt – über ihre ersten sexuellen Erlebnisse, über ihre Familie und engsten Verwandten, über ihre verkorkste Schulzeit. Und je länger sie reden, desto freier wird auch der Ich-Erzähler in seinen Bekundungen gegenüber seinen Lesern: „Sie half mir, in die Vergangenheit zu schauen und mit meinen Erinnerungen klarzukommen.“ (S. 119) Dieses Geständnis hinterlässt insofern einen nachhaltigen Eindruck, als auch der Leser aufgefordert wird, sich von beklemmenden Erlebnissen in seinem Leben freizumachen.
Zu sich selbst kommen auch Úna und Liam während ihres Berlin-Aufenthalts, wenn es um die Aufarbeitung von Schlüsselerlebnissen in ihrer irischen Heimat geht. Während der mit Engelsgeduld ausgestattete Ich-Erzähler Liam „seine“ Úna durch den Botanischen Garten schiebt, werden bei beiden belastende Erinnerungen wach: der jähe Tod ihres Bruders, bittere Erfahrungen mit einst geliebten Männern, die wachsende Entfremdung gegenüber ihrer Umgebung.
Aufgrund der ständig in den Berlin-Text eingeschobenen Erzählstränge entsteht eine Parallelhandlung, die eine hohe narrative Spannung erzeugt. Dieses erzählerische Verfahren erfährt im Schlussteil des Romans seine besondere Relevanz, als Úna in Begleitung von Liam eine Aufführung von Don Carlos im Opernhaus unter den Linden besucht. Empört über das ihrer Ansicht nach grausame Bühnenbild, bleibt sie nach der Pause im Vestibül, hört den einsetzenden Orchesterklängen zu und erzählt Liam die tragische und bewegende Geschichte vom Tod ihres Bruders. Die auf diese Weise entstehende Verbindung von Opernhandlung, in der Don Carlos aus staatspolitischen Gründen seine Geliebte Elisabeth nicht heiraten darf, und ihr verzweifeltes und vergebliches Bemühen um ihren Bruder gehört zu den eindrucksvollsten Passagen in diesem Buch.
Der transparent gestaltete Text in der fließenden Übersetzung von Henning Ahrens liest sich leicht und hinterlässt im Leseprozess einprägsame Bilder von Berlin, dessen Schauplätze unter der Feder von Hugo Hamilton ein einprägsames Timbre erhalten. Die Schlusspassage hingegen irritiert. Der Ich-Erzähler fährt nach seinem Berlinbesuch im Zug nach Osten. Ein befreundeter Fotograf hat ihn in ein Dorf kurz vor der polnischen Grenze eingeladen, wo er sich auf dessen Einladung hin eine begehbare Lochkamera anschaut. In dem Objektiv dieser Kamera steht die äußere Realität kopfüber, ein Zustand, den Liam als so angenehm empfindet, dass er die verkehrte Welt stundenlang wie betäubt betrachtet. Ein selbsttherapeutischer Akt oder nur wissenschaftliches Interesse? Mitnichten! Liam will sich nach der anstrengenden Betreuung seiner totkranken Bekannten für wenige Stunden von diesen Erfahrungen befreien. Nicht zuletzt aufgrund dieser Handlungslogik erweist sich das auf den ersten Blick irritierende Romanende als einleuchtend. Dennoch legt der Leser das Buch nachdenklich beiseite. Es ist so, als ob er sich ständig zwischen höchster psychischer Anspannung, aufrichtiger Freude und klammheimlicher Todesahnung bewegt hat.
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Jede einzelne Minute. Roman von Hugo Hamilton. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich. München (Luchterhand) 2014