Twitteratur, ein vorläufiges Resüme

Verlagsblogs sind das neue Ding: Nahe an den Autoren und den Käufer im Blick. Die ambivalente Haltung gegenüber den neuen Medien ist dabei allerdings unüberlesbar.

Erläutert Martin Ebel im Züricher Tages-Anzeiger einen neuen Trend und beschreibt damit den fortschreitenden Bedeutungsverlust des klassischen Feuilletons. Durs Grünbein gibt zum Beispiel im Logbuch des Suhrkamp Verlags Hinweise zum Verständnis seines neuen Gedichtzyklus „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“:

„Die Figur des Cyrano wiederum ist dazu angetan, von Anfang an das Gefühl für das Phantastische zu nähren. Denken Sie sich Jorge Luis Borges als ironischen Juror für diesen Zyklus. Einerseits gibt es den realen Autor und Abenteurer, eine Figur aus der Reihe der Frühaufklärer des Barockzeitalters, die mich so lange schon magisch anziehen. Er gilt als Schüler Gassendis, kritischer Leser Descartes‘ und der wichtigsten Astronomen seiner Zeit.“

Kein Redaktionsschluß. Unser Atem heißt JETZT!

Die Totholzvariante der Zeitung stellt nur noch eine begrenzte Reichweite her, die Öffentlichkeit findet nun im Netz statt. Das Internet 2.0 zwingt Autoren zur prinzipiell grenzenlosen Selbstdarstellung, aus purer Überlebensnotwendigkeit. Der Ausverkauf ist Alltag geworden. Kritische Fragen nach Aufrichtigkeit und den Grenzen des Kommerzes erscheinen inzwischen wenn nicht aus einer anderen Welt, dann aus einer anderen Zeit. Und so weit entfernt immerhin, daß sie nicht einmal mehr als Mahnung taugen. So plädierte breits Virginia Woolf für die Abschaffung der Rezension. Die Autorin unterscheidet zwischen der Kritik und der Rezension: „Der Kritiker befasste sich mit der Vergangenheit und mit Prinzipien; der Rezensent übernahm die Einschätzung der neuen Bücher“. Rezensenten, schreibt Woolf, wird es bald nicht mehr geben. Sie werden abgelöst werden von Vorkostern, die ihre immer kürzer werdenden Buchhinweise mit Sternchen versehen werden, wenn sie das Buch weiterempfehlen und mit einem Dolch, wenn sie von der Lektüre abraten wollen. Literatur bewegt sich im 21. Jahrhundert zwischen Autonomie und Kommerz. Die Tendenz zur Kommerzialisierung ist durch die Entstehung der sogenannten Neuen Medien, vor allem des als demokratische Publikationsform geltenden Internet, beschleunigt worden. Die Ausgangsthese von KUNO lautet, seit wir dieses Online-Magazin herausgeben: „Literatur unterscheidet sich prozessual kaum noch von einem Industrieprodukt“.

• Die postmodernen Schriftsteller sind besser darin ist, Stipendienanträge zu schreiben als bezwingende Literatur.

• Man hat eine Produktidee – oder ein Prosastück oder ein Drama oder profiliert sich im „goldenen Zeitalter“ der neuen Lyrik.

• Die Idee wird im Unternehmen evaluiert und ggf. in das zukünftige Angebot aufgenommen.

• Es wird eine umfassende Produktionsplanung erstellt – oder einfach nur die Vorbereitung auf die nächste Buchmesse.

• Man weist Budgets, Ressourcen und Personal zu.

• Man geht in den Fertigungsprozess – oder auf Lesungen.

• Es gibt die serielle Fertigung der Totholzvariante Buch.

• Und dann folgt die Produktvorstellung auf der Buchmesse.

Ist aktuelle Literatur noch ein Erkenntnismedium?

Das tradierte Bewertungsmuster hat ausgedient. Die deutsche Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Ausschlussmechanismus. Literatur operiert mit einem von der Kulturindustrie ruinierten Zeichenrepertoire. Literaturkritiker bemühen sich zu sehr, Bücher zu zähmen, sie ziehen sie runter auf ein einfach zu verstehendes Modell. Die Literatur als Sprachkunst verliert an Bedeutung, während die bildende Kunst immer mehr als das neue Auffangbecken für die ambivalente Kraft von Sprache dient. Das eigene Lesen ist Wiederlesen, eine Erinnerung an bereits gelesene Texte schiebt sich vor die gegenwärtige Rezeption. Das Gesetz, das den Literaturbetrieb regelt, lautet: Junge Leute machen Kultur für alte Leute.

Medien ändern die Wirklichkeitswahrnehmung der Literatur, doch was ist ein Medium, wie beeinflußt es das Schreiben, löst es gar das Schreiben auf?

Bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts war Kultur ein Statussymbol, das die Klassen trennte, die Oberschicht verband, die Unterschicht ausschloss, heute ist sie lediglich Unterhaltung. Inzwischen ist aus der Bildung eine Ausbildung für einen Beruf geworden, in dem man ein breites Publikum mit Kultur zu versorgen hat. Viel Geld investiert der staatlich organisierte Literaturbetrieb, um durch Stipendien, Poetikvorlesungen, Preise, Stadtschreibertum eine möglichst grosse Zahl von Künstlern zu fördern, die Neues schaffen und den Literaturbetrieb unverstaubt erscheinen lassen. Die Subventionskultur fördert  das Epigonale, das provokative Parfüm von vorgestern, die Empörung der vorletzten Avantgarde. Es wäre kein Problem, Kultursubventionen komplett einzustellen. Die Wirkung von Ästhetik liegt darin, Fragen aufzuwerfen, zuzuspitzen und nicht in der Anleitung zum Handeln.

Ich persönlich sehe den Literaturbetrieb als ein System, in dem Beziehungen, Geschlecht, Aussehen und Selbstvermarktung eine grössere Rolle spielen, als die Texte selbst.

Svenja Leiber

Der Konflikt zwischen den Generationen, der früher Kunst und Kultur vorantrieb, ist allgemeinem Einverständnis gewichen, in dem jegliche ästhetische Leidenschaft untergeht. Liest man die Selbstzeugnisse der achsogoldenenen Lyrikgeneration, dann reichen Ichsagen und Alleinsein schon aus, um den Schnabel ganz weit aufzureissen. Wenn Lyrik aus diesem Geist von Hildesheim und Leipzig oder dem Literaturinstitut in Biel heraus entsteht, neigt sie zumeist zur überheblichen Geste, hinter der oft nicht mehr steckt als verkunstete Weinerlichkeit. Diese Art des Textens ist intelligent und souverän, zieht sich jedoch auf preisgünstigen Weltekel zurück, sie ist erdrückt durch Kunst Kunstfertigkeit und Originalitätswahn, hat keinen Anschluss mehr an die eigene Biografie habe und ertrinkt in Gegenwärtigkeit. Sie hat die Verbindung zu sich selbst verloren, darüber, daß es kein Grundvertrauen mehr dafür gebe, daß das die Leute von der Literatur wissen, was sie tun, warum sie es tun. Die Stoffe und Gesten, diese Literatur weiß sehr viel, verfügt über schier unbegrenzte technische Möglichkeiten und hat wenig zu sagen. Mit Hilfe eines verschachtelten Stipendiensystems werden die Probanten auch nach der Ausbildung durch die Institute gereicht um Luftwurzelliteratur zu produzieren.

Ausschüttungszyklen der deutschen Subventionskultur

Der Spiegel-Kollege Georg Diez ermunterte die Jungliteraten in einer Ansprache zu mehr Widerspruch und Konfrontationskurs wider die „Ausschüttungszyklen der deutschen Subventionskultur … Heute mangele es an Autoren wie Rainald Goetz, die entschieden Einspruch einlegten. Aber die Stimmung hier in Hildesheim, die sei gut, so Diez. Mit dieser charmanten Überheblichkeit war er jedoch genau jenem ausgestellten Hedonismus dieser Autoren-Generation auf den Leim gegangen, in dem immer auch eine verzweifelte Geste liegt, die für die Kritiker der Provokationsjahre bisweilen schwer zu entziffern ist. Auch in Deutschland ist eine saturierte, wohlstandsgesellschaftlich blasse Gegenwartlyrik zu lesen, die stereotype Formen produziert und ihren tiefgreifenden Erfahrungsmangel mit grellen Versatzstücken aus fremden Medien kompensiert.

Wo ist in diesem überfütterten Betrieb Geist, Bewusstsein?

Abhandengekommen, so wie die Welt, an der es sich hätte bilden können. Während die Förderung von Gegenwartslyrik vor zwanzig Jahren noch mutig und wichtig war, hat sich, mit der steigenden Frequenz von Lyrikfestivals und Schreibworkshops statt der dramatischen Qualität eher der Verdünnungsgrad erhöht. Statt eigener Handschriften und Gedanken produziert der Betrieb paradoxerweise Uniformität. In den 10er Jahren erleben wir  eine Phase der literarischen Anpassung, in der sich jüngere Autoren mehr am kommerziellen Erfolg zu orientieren schienen. Zwar wollen sie veröffentlichen, aber ihrem ästhetischen Ansatz fehlt öfters der Mut zur Auseinandersetzung und der Widerstandsimpetus. Die Herausgeber erreichen hauptsächlich beliebig wirkende Texte. Das editorische Motiv, andere literarische Akzente zu setzen und die Möglichkeiten ästhetischer Produktion und Inhalte zu erweitern, hat sich erschöpft. Um dem entgegenzuwirken, braucht es Strenge in der Qualitätskontrolle, weniger Lob gegenüber Neulingen und ein verstärktes Ringen um Kontinuität. Ich sehne man nach der elementaren, raumschaffenden Metaphorik eines Heiner Müller und seinen unbarmherzigen Verdichtungen: „Ein toter Mann kann einer toten Frau das Sterben nicht verbieten unter Bürgern.“

Digitales Publizieren sollte sich von der klassischen Buchkultur emanzipieren… Ebenfalls den Wandel in Richtung Digitalität betreffend, diesmal aber in Bezug auf Buch, Text und was daraus in einer vernetzten Welt wird. Grundtenor: E-Books sind etwas anderes als Bücher und sollten von dieser Metapher befreit werden. Dazu gehört auch das Loslassen vom Werk und die Einsicht, dass, frei nach Foucault und Bartes, der Autor auch nur Rezipient und Collageur von Altem ist.

Christiane Frohmann

Die Kollegin Frohmann wünscht sich im Freitag ein neues Image für das E-Book, denn es kann: „ein buchstäblich offener Text sein, der in verschiedenen Versionen neben- und nacheinander existiert, der sukzessive neue Gedanken, Bilder und Autoren in sich aufnimmt, der strömt und Resonanzschleifen erzeugt, der mittels Verlinkung beim Lesen rekursiv hin und her springt, der in seinem ungewöhnlichen Erscheinen neue Erfahrungs-, Vorstellungs- und Gefühlswelten eröffnet, die mit einem sich ständig verändernden Schreiben und Lesen einhergehen.“ Wer zitiert, macht sich etwas Fremdes zu eigen – wer dagegen verweist, deutet vom Eigenen weg. Natürlich ist es ganz so einfach wohl nicht, weil ein Zitat ja auch immer einer Einladung gleichkommt, abzuschweifen, anderswo anzudocken. Oder weil man einen Verweis nicht erkennen oder nicht Folge leisten kann?

Die Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Kunst.

Susan Sonntag

Zeitgleich entsteht in den sogenannten sozialen Netzwerken eine Literatur die keine Leser mehr braucht, sondern nur noch Follover, das ist praktisch, dann muß man über Literatur auch nicht mehr reden, man kann sie liken. Oder dissen, es wurde in diesem Jahr auch wieder gefragt, was eigentlich relevante Literatur meint, oder ob es gut sein kann, wenn anscheinend die gesamte Literaten–Incrowd in der Hauptstadt wohnt oder an einem Literaturinstitut studiert. Dieser Literaturbetrieb ist ein System, in dem Beziehungen, Geschlecht, Aussehen und Selbstvermarktung eine größere Rolle spielen, als die Texte selbst. Es ist zudem immer noch ein männlich dominierter Betrieb, in dem sich in einer Art Schwarmbewusstsein an eben diese dominanten Meinungen angeschlossen wird.  Man durfte sich nur nicht um Kopf und Kragen reden oder wie jemand aussehen, der zuviel Zeit für Meinung hat. Als Nutzniesser spielen erst einmal alle mit, so lange sie können, nicht nur die Literaten. Der Vatermord kann nicht ordentlich stattfinden, weil der Vater diese Typen dauerhaft füttert. In einem Literaturbetrieb, in dem es per Distinktion letztendlich doch um Geld geht, wird sich natürlich in Wirklichkeit angepaßt.

Literatur weist nicht den Weg zur Freiheit. Sie ist die Freiheit. Sie wächst mit der Freiheit, die sich der Schriftsteller nimmt, um sie zu schaffen. Doch nutzen die Schriftsteller, diese ihre Freiheit noch?

Wagen sie ihre eigentliche Zuständigkeit?

Geht es also nur noch darum mit den sogenannten Errungenschaften unserer Zeit vollends einverstanden sind, oder darum ob die Polemik ihnen eine willkommen zugerüstete Gelegenheit für die Selbstdarstellung bietet, die printmedial einen Konkurrenzkampf um stilistische Akrobatik bietet?

In einem sehr lesenswerten Text räumt Hannes Bajoh mit völlig veralteten Vorstellungen von digitaler Literatur auf. Hypterext, Rhizome, nichtlineares Erzählen sind Schnee von gestern, und selbst die in die Bildende Kunst spielende Google-Poesie, Stephen McLaughlins Puniverse oder Douglas Couplands lyrische QR-Codes verwandelte QR-Codes bleiben spärliche Vorstöße: „Womöglich haftet flarf und ähnlichen Experimenten, die das Internet zur Textproduktion heranziehen, wie etwa twitlit, wo Twitter zum literarischen Operationsfeld wird, noch etwas Allzuwörtliches an, das es leicht macht, sie zu ignorieren. Sie fischen nur die Oberfläche des Internet ab, ohne sich an die Untiefen des Digitalen zu wagen. Das Internet ist auch Google, ist auch das Stimmengewirr der sozialen Netze, aber darin erschöpft sich das Digitale nicht. Wie es in der Gegenwartskunst den Unterschied zwischen net art und digital art gibt, sollte man auch Netzliteratur von digitaler Literatur trennen. Das eine sind Schnappschüsse eines kulturellen, linguistischen und technologischen Augenblicks, der sich in der Geschwindigkeit verändert, mit der Meme und Plattformen auf- und wieder abtauchen; das andere sind Versuche, die Affektorganisation und Weltwahrnehmung durch das Digitale überhaupt darzustellen.“

Autoren, Kritiker, Lektoren und Kulturjournalisten schämen sich seit einiger Zeit nicht zu sagen, dass sie ein Buch nicht verstanden hätten. Haben sie ein Buch nicht verstanden, meinen sie, das Buch wäre schuld. Sollten wir nicht lieber so tun, als hätten wir das Buch verstanden – und weiter denken? Irgendwann werden wir mehr verstehen.

Olga Martynova

In diesem Online-Magazin präsentieren wir öfter die Mythen des Alltags und interessieren uns für die Wechselwirkung von Emotionen und Marktwirtschaft. Um der Literatur willen besteht kein Bedarf an engagierten Schriftstellers. Engagement für die Literatur ist so unnötig wie eine engagierte Literatur. Es bedarf des Engagements in der Literatur. Wer sein Schreiben ausüben kann, braucht sich nicht zu beklagen, auch nicht über das Unrecht der Welt. Und wen die Kunstausübung überfordert, der unterlasse sie eben besser. Politisch wirksam wird sie, sobald sie sich den Ideologien entzieht. Ein Schriftsteller, der auf den Grenzen seines Metiers besteht, provoziert heute mehr als jeder Grenzgänger. Zeitgenössische Literatur ist keine Stilrichtung. Wo sie etwas Gültiges über unser jetziges Dasein aussagt, das wird sich erst in 50 Jahren zeigen. Wenn, frei nach Goethe, der letzte gestorben ist, der sich noch persönlich an heutige Schriftsteller erinnert. Das Vorurteil wird dahin sein. Vergessen oder Mythos folgt. KUNO stilisiert sich nicht als eines dieser gallischen Dörfer, das den Eindringlingen erfolgreich Widerstand leistet, wir leisten auf ästhetischer Ebene Widerstand gegen die Durchökonomisierung der Branche.

Ein Aphorismus ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette.

Marie von Ebner-Eschenbach

Das erste Twitter-Logo ist ein Design-Klassiker: Der blaue Vogel „Larry“.

Johann Wolfgang Goethe hat erklärt (und Generationen von Germanisten sind ihm willfährig darin gefolgt), dass es „nur drei echte Naturformen der Poesie“ gebe, nämlich „Epos, Lyrik und Drama“. KUNO zählt den Aphorismus und seinen digitalen Nachfolger unbedingt dazu. Wir haben in diesem Jahr versucht, dies mit dem Schwerpunkt Twitteratur ironisch aufzubrechen. Es entstand etwas ganz Eigenes. Nicht der Kontrast zwischen Alt und Neu, auch nicht das intellektuell vergleichbar simple Nachahmen, sondern ein dritter Weg. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen, sondern die dargestellten Zustände erst zu entdecken, indem man sie unterbricht und so ermöglicht, sich von ihnen zu distanzieren. Die Verfremdung, durch eine solche schockhafte, retardierende Unterbrechung, führt also zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, das erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?

Über die Bedeutung der Twitteratur wird seit 2009 gerätselt: „Miniaturen? Anekdoten? Essays? Witze? Parabeln? Fabeln? Texte? Aphorismen oder gar Denksprüche, Apophthegmen? Gebete, vielleicht Weisheitsliteratur?“ Wir setzen uns davon ab, oft Gehörtes zu wiederholen, dies kann zwar für den Buchmarkt von Vorteil sein, denn Leser bevorzugen bekanntlich Texte, die ihnen noch mal schöner erzählen, was sie eh schon wissen. Deshalb hat auch das Lesen des Lieblingsfeuilletons eher etwas Rituelles, Gottesdienstartiges, als daß es einen auf neue Gedanken stößt. KUNO verabschiedet sich vom klassischen Autorenbegriff. Die Herausforderungen der kommenden Gesellschaft sind zu komplex, um von einem einzelnen definiert, aufbereitet und auch noch niedergeschrieben zu werden.

Twittern im Theater?

Der Horror! Jedenfalls für die meisten Theaterliebhaber. Aber warum eigentlich, fragte Anne Peter in einem langen Text in der nachtkritik. Schließlich hat schon Brecht sich in seiner Radiotheorie mehr Taktiken überlegt, dem Zuschauer das Versinken auszutreiben und „die Fußnote und das vergleichende Blättern“ einzuführen. Die reale Erfahrung war für Peter dann eher zwiespältig: „Dennoch würde ich die Livetwitterflinte nicht ganz so rasch ins Theaterkorn werfen und mich den kulturpessimistischen Unkenrufen und Digitalisierungsskeptikern anschließen wollen. Schließlich handelt es sich beim Switching zwischen Bühne und Display nicht um völlig disparate Tätigkeiten: Ich betwittere, was ich auf der Bühne sehe und höre, was ich dazu denke und fühle. Teilnehmer von Tweetups sprechen immer wieder nicht nur von einer gemeinschaftsstiftenden Wirkung des gleichzeitigen Twitterns, sondern auch von der Intensivierung des Erlebten und der Auseinandersetzung, ja von gesteigerter Aufmerksamkeit.“

LitMode 100

Die Nase voll von Kritikern, die den Roman für tot erklären, weil sie „persönlichen Mucken für universelle Werte halten“? Sehnsucht nach einer Literatur, die immun ist gegen Kritikermoden? Der amerikanische Autor Colson Whitehead hat die Lösung, er empfahl in der NYT LitMode 100:

„Der LitMode 100 ist ein voll anpassungsfähiges, leichtgewichtiges Schreibmodul auf dem neuesten Stand der Technik. Konstruiert aus literarischem Material von absoluter Top-Qualität und gestaltet von aktiven fiktionalen Autoren, ist es kompakt, spülmaschinenfest und kommt mit einem benutzerfreundlichen Thesaurus-Menü ins Haus. Der LitMode 100 wurde eigens entwickelt, um Angriffen des Kritiker-Establishments ebenso standzuhalten wie anonymen Bloggern und sogar den üblichen Internet-Trollen bis zu einer ab Werk skalierten Belastung von 1200 K.P.T.s (Kommentaren pro Tag).“

Was unterscheidet maschinengenerierte Lyrik von Gedichten, die ein Schriftsteller verfasst hat?

Wer glaubt, er könne diese Frage locker beantworten, kann sich jetzt auf einer neuen Website testen: Hier wird den Nutzern eine Auswahl englischsprachiger Gedichte vorgesetzt. Unter den Versen muss sich der Nutzer dann jeweils entscheiden, ob sie von einem Menschen oder von einem Rechner verfasst wurden.

Botpoet nennt sich die Seite und unter dem Menüpunkt Free Play können Lyrikliebhaber ausprobieren, wie gut sie menschliche von maschineller Schreibkunst unterscheiden können. Manchmal ist es ganz leicht, unter anderem auch, weil das ein oder andere Gedicht sehr bekannt ist. Manchmal ist es ein wenig kniffeliger oder das Ergebnis eine völlige Überraschung.

Gefangen im Limbo der sozialen Medien

Thierry Chervel erklärt im Perlentaucher, warum er die Krautreporter unterstützt, die das Experiment wagen, sich künftig von ihren Lesern finanzieren zu lassen (sofern sie 15.000 Abonnenten finden). Vier Gründe nennt er dafür:
„1. Das Internet ist die Öffentlichkeit
2. Es gibt keine Ökonomie der Information
3. Es geht um die Zukunft der Öffentlichkeit, nicht des Journalismus
4. Wir müssen über die Öffentlich-Rechtlichen reden.“

KUNO verabschiedet sich vom Originalgenie als Künstler

Das Internet ermöglicht uns, eine Welt der Bezüge herzustellen, daher rufen wir auf KUNO die Klassiker der Kurzformen in Erinnerung und kombinierten sie in diesem Jahr mit aktuellen Themen und Autoren. Ein Autor er ist heute nicht mehr der Gatekeeper mit dem Geheimwissen von einst. Daher knüpfen wir in diesem Online-Magazin wortreich soziale Netzwerke mit Lebenden und Toten. Das Netz hat die Literatur aus den Krallen der Kritiker befreit und die Geschmackspolizei entmachtet.

Geistiger Diebstahl bleibt unfein, aber gegen eine gepflegte Ideenhehlerei wäre postmodern nichts einzuwenden.

Ulrich Horstmann

Hypertext bietet eine Erweiterung: Online-Sein heißt Verflüchti­gung, und im Glauben, alles zu erfassen, kann selbst der interessierte Leser doch nur seine Ohnmacht ange­sichts der Zeichenschwemme einge­stehen. Der se­man­tisch ent­ris­sene Text tritt als Fließtext in Kon­kurrenz zu anderen Texten und Bildern, die immer auch auf den eigent­lichen Text als Diskurs­produkt zurück­wirken. Auch die Text­intention ändert sich durch die mediale Ver­schiebung, sodaß die Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit wird. Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird. Wir bei KUNO glauben, daß die Öffnung der Archive das große Zeichen unserer Zeit ist. Wie geht man damit um, dass man mit einem Mal durch das Internet einen direkten Zugang zu allen jemals erschienenen Arbeiten bietet?

Wie geht man mit dieser Vielfalt um?

In welchem Verhältnis stehen Neuerscheinungen zu den Avantgarden der Vergangenheit?

Was soll das Literatur machen, wenn alle Tabus gebrochen, alle Grenzen überschritten sind?

Die Aufgabe von Twitteratur:

• hat Haltung und kann auf die Frage „Wozu“ in einem Satz antworten.

• ist die Haltung der digitalen Naissance

• versteht digitale Technologie als künstlerische Möglichkeit

• versteht sich als Teil der Netzgesellschaft

• ist wagemutig, neugierig, provozierend

• versichert sich reflektierend der Themen der Gesellschaft

• ist vielformatig und lässt sich von neuen Formen inspirieren

• kann Komplexes komplex erzählen

• verwandelt sich vom Industrieliteratur zur fluiden Poesie

• ist kollaborativ und kooperativ, bindet jeden Mitarbeiter künstlerisch ein

• vernetzt sich mit der Welt und ist Zentrum eines künstlerischen Netzwerks

• macht die eigene Organisation zu einem künstlerischen Gebilde

Enkaustik von Haimo Hieronymus

Es gibt Äonen von Gedanken, die wir in dieser Sekunde mit einem einzigen Knopfdruck abrufen können. Aber kein Gedanke ist so wertvoll und so neu und schön wie der, dessen erstes Flügelschlagen wir gerade jetzt in unserem Bewusstsein hören.

Frank Schirrmacher

Mit ihrer Interaktivität löst einen Traum der Moderne ein. Émile Zola hatte 1880 in seiner programmatischen Schrift „Der Experimentalroman“ sein naturalistisches Schreibprojekt als Laborversuch skizziert: „Man nehme einen biologisch in spezifischer Weise determinierten Helden und setze ihn in ein wissenschaftlich genau abgestecktes Milieu. Die Geschichte, die sich aus dem Zusammenspiel der Faktoren ergeben werde, dürfe als wissenschaftliche Erkenntnis von den Handlungsoptionen menschlicher Akteure gelten.“ KUNO versteht als Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren läßt, soll der Ort werden, an dem die subjektlose Revolution der nächsten, digitalen und vernetzten Gesellschaft reflektiert wird. In dem die Themen behandelt werden, die die Menschen und die Gesellschaft bewegen und zwar mit maximaler formaler Freiheit. Die Themen, die die Menschen zum Lesen bewegen. Dieses Thema bearbeiteten Autoren auf unterschiedliche Weise. Beantwortet ist die Frage, ob wir der Literaturgeschichte entkommen können, noch lange nicht. Die Literatur ist im Fluß, hier die Edition Das Labor, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – für mich ist das kein Gegensatz, sondern der Beweis für das Langlebige, Überzeitliche der Poesie.

Die Literatur muß versuchen, einen größeren Überblick zu bekommen und sich in Gegenwelten zu bewegen.

Diese Forderung richtet sich an die Schriftsteller, von denen ich glaube, daß sie eigentlich den gesellschaftlichen Auftrag haben, stellvertretend für die Menschen, die sich nicht mehr in diese Dinge hineinbewegen können, in Gegenwelten, in Entwürfen, in den großen Texten zu spielen und das ganz ernst zu nehmen und das nicht als eine – und das wird es immer mehr – als eine eitle persönliche und die eigenen Obsessionen befriedigende Geschichte gesehen wird, sondern als eine hohe Begabung.Im Zusammenhang mit Öffentlichkeit tritt immer die Frage nach Repräsentation zutage. Man kann eben auch heute nicht einfach nur Kunst machen, Musik, Literatur. Plötzlich taucht das Phänomen der Professionalität auf, Selbstdarstellung, Verkauf – alles im Grunde kunstferne Fähigkeiten. Und, ganz wichtig, plötzlich dürfen keine Fehler mehr gemacht werden, dabei gehören die Fehler zwingend zur Kunst.

Einen Aphorismus zu schreiben, wenn man es kann, ist oft schwer. Viel leichter ist es, einen Aphorismus zu schreiben, wenn man es nicht kann.

Karl Kraus

Die Redaktion verleiht Karl Feldkamp – einem Meister der Kurzform – den KUNO-Twitteraturpreis 2014. In unterschiedlichen Felder der Literatur zu Hause hat sich der gestandene Lyriker und Essayist neuen Formen gegenüber aufgeschlossen und vermag dies auch zu begründen, für ihn ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Feldkamp behilft sich mit der scheinbar einfachsten Form der Literatur. Seine Twitteratur sind Miniaturen in Prosa, sie sind präzise, witzig, und philosophisch. Seine Twitteratur zeigt dem Leser wie klein Geschichten sein können. Wie entbehrlich Handlung ist. Dies ist keine Lyrik, weil sich in Lyrik Wörter vor allem aufeinander beziehen. Diese Twitteratur verweist auf Reales, es ist der Kern, um den herum eine unendliche Vielzahl von Formen aufblüht – ein Aperçu, eine Aufzählung, ein Witz, ein Paradox. Das Schreiben ist zum einen Erkenntnismedium, und des weiteren Schauplatz individueller und kollektiver Handlungsweisen in einem gesellschaftlichen, politischen Rahmen. Twitteratur darf sich von allen Literaturgattungen bisher den geringsten Zuspruch erwarten. Jedoch fällt dieser Autor nicht hinter den Stand der Dinge zurück. Er ist ein Literaturschaffender, auf den ein Benn-Zitat zutrifft: Erkenne die Lage, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen, vollende die Einzelnen deiner Werke. So hat er es versucht zu machen, und es ist etwas dabei rausgekommen. Da kann man nicht meckern;-)

 

 

Das „Hungertuch“ von Haimo Hieronymus in der Martinskirche, Linz am Rhein

Weiterführend →

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Nur auf KUNO sind die Mikrogramme von A.J. Weigoni zu finden. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt