Nachdem der Körper kaputt ist, entwickelt sich das Gehirn erstaunlich gut.
Thomas Bernhard
Laut Internet-Bibel Wikipedia ist ein Blogger die Bezeichnung für: den Verfasser von Beiträgen in einem Blog (Weblog). Das Blog oder auch Web-Log, eine Wortkreuzung aus dem englischen World Wide Web und Log (für ›Logbuch‹), ist ein auf einer Website geführtes und damit – meist öffentlich – einsehbares Tagebuch oder Journal, in dem mindestens eine Person, der Web-Logger, kurz Blogger, Aufzeichnungen führt, Sachverhalte protokolliert oder Gedanken niederschreibt. Einer von ihnen ist Bruder Lustig (aka Klaus Krüger), der jeden Tag Buchtipps in weltweite Netz stellt. Im Gegensatz zu vielen anderen Bloggern ist Krüger Mitglied im DJV, den weitaus meisten seiner Beiträge merkt man diesen journalistischen Huntergrund an. Daher bringt KUNO gern ein Kollegengespräch, das er mit Matthias Hagedorn unlängst geführt hat.
Klaus Krüger(KK): Matze, was ist für dich ein perfekter erster Satz in einem Roman?
Matthias Hagedorn (MH) Gibt es nicht. Glücklicherweise ist Literatur nicht perfekt, sie gleicht darin dem Leben;-)
KK Welche literarischen Vorbilder hast du?
MH Michel de Montaigne. Das existenzielle Schreiben kann man bei als moralische Selbstbehauptung beschreiben, z.B. in Michel de Montaignes Rückzug in sein offenes Projekt der Essais sieht. Was ich an Montaigne schätze, ist seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken. Mit dem Begriff ‘Essay’, zu Deutsch in etwa ”Versuch“, distanzierte sich der Meister bewußt von der Wissenschaft, seine ”Versuche” sind vielmehr von subjektiver Erfahrung und Reflexion geprägte Erörterungen.
KK Seit wann schreibst du?
MH Seit 1974 arbeite ich als Lektor. Habe Events organisiert, Lesungen, Vorträge und Ausstellungseröffnungen durchgeführt. In projektbezogen zusammengestellten Teams habe ich einvernehmlich mit Tontechnikern, Regisseuren, Schauspielern, Grafik-Designern, und anderen Kreativen gearbeitet. Professionalität sind mir beim Fundraising für Kataloge, Bücher und CD-Projekte bestätigt worden. Seit 2001 zwingt mich eine Krankheit in den Rollstuhl.
KK Wie lange schreibst du jeden Tag?
MH Wenn es die Krankheit zuläßt. Seit 2001 leide ich an Multipler Sklerose, einer Krankheit, die meinen Körper unaufhaltsam auffrisst. Die heimtückische Nervenerkrankung, läßt Entzündungen in meinem Gehirn wuchern. Krankheit ist etwas Vorübergehendes, Behinderung nicht. „Unbefristet“ steht in meinem Behindertenausweis. Mein Körper ist in großen Teilen unbrauchbar. Wie ein verbogener Metzgerhaken liegt er im Rollstuhl. Die linke Schulter hängt an ihm wie eine Rutschbahn. Die rechte sieht aus, als würde sie irgendwo am Ohr beginnen. Ein Fuß ist so weit zur Seite gedreht, es sieht aus wie die Position einer Balletttänzerin. Zuweilen versagen auch die Finger und die Gedanken wollen nicht auf die Tastatur.
KK Wie lange arbeitest du an einem Roman?
MH Ich schreibe Essays. Dem Essay hängt der Ruf an, zu klein und zu nebensächlich, eine seltsame, irgendwie veraltete Form des Journalismus zu sein. Zwar ist der Essay kein langer Roman, auch keine wissenschaftliche Abhandlung, im Idealfall aber verbindet er die Qualitäten der Gattungen. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.
KK Welche Ziele hast du als Autor? Wo willst du einmal hinkommen?
MH Mein Leitstern ist Walter Benjamin, der sich von der Montage und Konstellation von Zitaten nicht nur eine neue Kunstform, den Funken der Erkenntnis, sondern eine Art von Erlösung der Vergangenheit versprach, indem er ihre Tradierbarkeit durch ihre Zitierbarkeit ersetzte – so sehr, dass er an eine Buchpublikation aus lauter Zitaten dachte. Das Subjekt des Autors geht in die Form und Substanz seines Materials ein – was sich die Entsagungsbereitschaft von Herausgebern kategorisch versagt. Ich bin ein Amateur, weil in dem Wort Amateur das Wort Amour steckt.
KK Inspirieren dich andere Autoren?
MH Als Rollstuhlfahrer habe ich das Glück, in A.J. Weigoni einen Betreuer zu haben, der mich überfordert. Da Weigoni die “Drecksarbeit” für mich erledigt, unterstütze ich ihn auf diese Weise. Ich beneide Menschen, die waidgerecht eine Metapher ausnehmen, eine Figur in einem Satz festnageln, sich an Geopolitik oder Neurochemie wagen können, ohne daß ihnen dabei der Schweiß auf der Stirn steht. Ich beneide sie um das Gefühl für die Richtigkeit ihres Tuns. Wenn ich beobachte, wie sich jemand bückt, um einem anderen zu helfen, glaube ich, daß er die Arbeit aller tut, den menschlichen Job. Ich bewundere diese Menschen, aber ich beneide sie nicht. Nicht zuletzt Paul Celan hat auf die etymologische Verwandtschaft von Denken und Danken hingewiesen.
KK Welcher Autor/welche Autorin ist völlig unterbewertet?
MH Holger Benkel. Dieser Autor verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Für diesen Lyriker leuchtet die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise ein. Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Benkels Aphorismen folgen keinem linearen und systemischen Denken, sie entfalten sich vielmehr assoziativ und labyrinthisch. Was den Essays von Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.
KK Und wer wird überschätzt?
MH Günter GraSS mit seiner Form der Gesinnungsästhetik, von politischem Erhabenheitskitsch mit vulgär–marxistischem Pathos a la „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990“. Über die kritischen Äußerungen auf seine Zwiebel-Biographie sprach Günter GraSS von “Entarteter Presse”, die Kritik an seinem langen Schweigen über die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS grenze an einen “Vernichtungsversuch”. Als man ihn daran erinnerte, welchen Platz der Begriff “entartet” im Wörterbuch des nationalsozialistischen Unmenschen einnimmt, gestand er zu: “Ich korrigiere das Wort”, hielt aber in der Sache an seinem Vorwurf fest. Eine ausführliche Begründung findet sich hier.
KK Was inspiriert dich beim Schreiben?
MH Das Lesen! “Du schreibst das Leben”, hat Veza Canetti 1948 ihrem Mann Elias geschrieben, “aber wenn Du lebst, verschreibst Du Dich.” Das eigene Leben ist kein Nachschlagewerk, in dem man nach Belieben herumblättert, kein fertiges Manuskript, das man jederzeit veröffentlichen kann! Veza Canetti nimmt damit das postmoderne Konzept einer Autorschaft vorweg, demzufolge der Schriftsteller nicht mehr zu schreiben hat, sondern sich schreiben läßt.
KK Was ist dein nächstes Projekt?
MH Das Onlinemagazin Kulturnotizen (KUNO) – Wir interessieren uns für Kunst, die nicht illustriert, sondern anders politisch relevant ist, es sind Künstler, die sich für Lebensentwürfe und das Zusammenleben interessieren und nicht für standardisierte Wege. Bei diesem Netzwerk sind grundlegende Werte die Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Demokratie, Gleichheit und Solidarität. Die beteiligten Artisten sollten auf die ethischen Werte Ehrlichkeit, Offenheit, Sozialverantwortlichkeit und Interesse an anderen Menschen vertrauen. Der Sinn der Edition Das Labor liegt darin, dass sich Künstlergruppen aus unterschiedlichen Regionen zusammenschließen und dem herrschenden Kulturbetrieb etwas Eigenes entgegensetzen. Diese Art zu arbeiten befreit die Gründer der Edition Das Labor von der Massenidentität, die in der globalisierten Gesellschaft entsteht. Diese Artisten machen keine Kunst, um Antihelden einer Subkultur zu sein, sondern vor allem, um die Sinngebung durch Kunst zu retten, um als Individuen zu überleben.
KK Wenn du drei Wünsche frei hättest – welche wären das?
MH Die Uraufführung von Don Giovanni in Prag miterleben. Die Madrigali I-VIII von Claudio Monteverdi im Altenberger Dom hören. Und leben, wie eine Serienfigur, einmal die Woche eine Kolumne schreiben, wie Carrie Bradshaw aus Sex and the City, die als Kolumnistin ungefähr 50.000 US-Dollar pro Jahr verdienen dürfte, Manolo-Blahnik-Schuhe kommen für mich nicht in Frage, aber ihre Wohnung im West Village von Manhattan würde ich gern gegen das selbstbestimmte Leben in Bad Mülheim austauschen;-)
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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019 (erweiterte 4. Auflage).
Weiterführend → Zur Gattung Essay mehr hier.
→ ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.
→ Zwischen 1995 und 1999 hat A.J. Weigoni im Rahmen seiner Arbeit für den VS Kollegengespräche mit Schriftstellern aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz geführt. Sie arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache