Wer so unverblümt seinem Leser entgegentritt und sein Vorwort benutzt, um ihm ohne Umschweife mitzuteilen, dass er nur einen 23 Jahre umfassenden Zeitraum aus seinem Leben vor ihm ausbreiten möchte, der ist sich seiner Botschaft gewiss. Zumal es sich um eine turbulente, von Triumphen und Erniedrigungen begleitete Lebensphase eines musikalischen Genies handelt, das unter den Launen einer korrupten Musikverwaltungsclique zu zerbrechen drohte und dem mit Unterstützung von Freunden und Gönnern die Rückkehr in den schöpferischen Freiraum und schließlich sogar der Ausweg in die westliche Musikindustrie gelang. Im Falle von Andrei Gavrilov, 1955 in einer renommierten Künstlerfamilie in Moskau geboren, mit sechs Jahren Schüler der Moskauer Zentralen Musikschule und Absolvent des berühmten Konservatoriums, im Alter von 19 Jahren Preisträger des Tschaikowski-Wettbewerbs, zwischen 1979 und 1985 wegen seiner sowjetfeindlichen Haltung vom internationalen Musikleben ausgeschlossen, enthält die Botschaft des Autors eine besonders radikale Aussage: wer sich diesem sowjetischen Regime nicht vorbehaltlos unterwirft, der läuft Gefahr, gnadenlos erniedrigt zu werden, mehr noch, vernichtet zu werden.
„Tschaikowski, Fira und ich“ – mit diesem Titel assoziiert der Autor drei Gestalten ruhmreicher russischer und sowjetischer klassischer Musiktradition: Tschaikowski als Inbegriff klassischer russischer Komponistentradition, Swjatoslaw Richter, in seinen Freundeskreisen Fira genannt, als bedeutende Persönlichkeit der sowjetischen Pianisten-Schule und er selbst, Andrei Gavrilov. Ein aufbegehrendes, nach individueller Freiheit drängendes Musikgenie, das mit seiner dramatischen, komischen und zugleich freimütigen Erzählung wesentliche Einblicke in reglementierende sowjetische und postsowjetische Musikinstitutionen wie auch westeuropäische, von Profit und Konzerninteressen bestimmte Verhältnisse bietet. Es ist eine von Genuss, musikalischer Hingabe (die beiliegende CD mit neun Nocturnes von Frėdėric Chopin!), Abscheu, Neugier, Kopfschütteln, Spannung und Gelächter begleitete Lektüre.
Der in rund siebzig Erzählpassagen aufgeteilte Text, in dem einige Zwischentitel auf Klavierwerke von Chopin verweisen, andere sich auf Namen von Gavrilovs Freunden beziehen, die übrigen bestimmte Ereignisse oder Örtlichkeiten assoziieren, stimmt den Leser in mehrfacher Hinsicht auf den lockeren Erzählton von Andrei ein. Er wolle weder ein akademisches Werk noch eine musikwissenschaftliche Schwarte, geschweige denn eine politische Analyse abliefern, sagt er in seinem Pseudovorwort. Es sei eine Sammlung halb ironischer Texte, die mehr oder weniger mit Musik zu tun hätten, also „Episoden aus meinem Leben, Ansichten, Porträts lebender und verstorbener Menschen, Dialoge, Konzertauftritte, Gedanken über Musik, Auszüge aus Briefen.“ (S. 15)
Kein Lebenslauf kommt ohne einen Rückblick auf die Familie aus, zumal Andrei Gavrilov eine weit verzweigte Verwandtschaft vorweisen kann. Die weibliche Linie geht auf armenische Wurzeln zurück, aus der seine Mutter, eine bedeutende Pianistin, stammt. Gavrilovs Vater hingegen, ein angesehener Kunstmaler, hat russische Vorfahren. Diese Eingangspassage erinnert an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem besonders seine armenischen Vorfahren unter der Stalinschen Terrorherrschaft gelitten haben Bereits die folgende Passage widmet sich dem musikalischen Thema. Sie greift das Abschiedsmotiv mit der Klanglautfolge FA-RE-DO-SI auf: „1985 verließ ich die UdSSR“, nachdem ihn Michail Gorbatschow von der Liste der „Feinde der Sowjetmacht“ gestrichen hatte, eine Geste, von der Gavrilov erst in der Schlusspassage seiner Lebensgeschichte (S.368) erzählt.
Zweifellos gehört die Interpretation der Werke von Chopin zur vornehmsten Aufgabe des russischen Pianisten. Darauf verweist nicht nur die tonale Beigabe der Nocturnes in der vorliegenden Publikation. Dort ist auch die stetige Bewunderung Gavrilovs gegenüber dem polnischen Komponisten und Pianisten eingeschrieben: „Kein anderes Genie in der gesamten Geschichte der Menschheit vermochte je eine Welt erstehen zu lassen, die so wundervoll und einzigartig ist wie die des Frėdėric Chopin.“ (S.27) So nimmt es nicht wunder, dass der Autor seine zahlreichen Konzertauftritte mit der Interpretationsgeschichte bedeutender Werke Chopins verbindet und in Verbindung damit auch die „jämmerlichen“ Interpretationen seiner Kollegen in Bausch und Bogen verurteilt.
Nach Gavrilovs Triumph im Tschaikowsky-Wettbewerb 1974 durfte der „verdiente“ Musensohn der Sowjetunion bis 1979 auch in den Westen zu Konzertauftritten reisen, natürlich in Begleitung von charmanten Dolmetscherinnen. Sie hatten ebenso wie plötzlich am Zielort auftauchende „Gönner“ die Aufgabe, das Piano-Genie nicht entwischen zu lassen. Diese Passagen hinterlassen, wenn sie nicht die morbide Sphäre des Misstrauens des KGB gegenüber seinen Bürgern schonungslos beschreiben würden, einen ebenso lächerlichen Eindruck wie die perfiden Erpressungsmethoden des Überwachungsapparats gegenüber seinen mit Privilegien ausgestatteten Musik-Angestellten. Ein besonders beredtes Beispiel ist die Passage „Ich bin deine schlanke Weizenähre“, in der Gavrilov sich mit dem Schicksal des Komponisten Sergej Prokofjew (nicht Prokoffjew!) auseinandersetzt. Sein hohes Lob bezieht sich sowohl auf die Kompositionsweise des Meisters („klare neoklassische Musik“, „energiegeladene, originelle Harmoniefolgen“) als auch auf die Interpretation seiner Werke in der SU („schlecht verstanden und interpretiert“). Noch eindringlicher ist sein Urteil über die sklavische Abhängigkeit des Komponisten von dem Sowjetregime: „Während der Sowjet-Ära, als lebenslänglicher Gefangener, als Geisel Stalins, entwickelte sich seine Psyche und schwang sich in unerhörte Höhen und Tiefen.“ (S. 74) Und das Fazit? „In der Musik des späten Prokoffjew hört man das Knirschen der Hölle …“.
Es spricht für die lebendige Beschreibung und distanzierte Bewertung der sowjetischen Estradenkultur, einer Mischung aus hehrer Vaterlandsliebe, kostümierter Klassik und Heroenkitsch, dass der Autor sich nicht nur lustig macht über den Auftritt des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Leonid Breschnew, sondern – im gleichen Atemzug – auch die künstlerischen Leistungen seiner Kolleginnen und Kollegen aus benachbarten Kunstgattungen uneingeschränkt würdigt. Nicht minder nüchtern und oft auch sarkastisch ist Gavrilovs Beurteilung der westlichen Konzertmanager, ihren Tricks im Umgang mit den bestechlichen Funktionären von Goskonzert (sowjetische staatliche Konzertagentur). Ebenso anschaulich und oft von einer entwaffnenden Ehrlichkeit, in die sich natürlich auch Eitelkeit mischt, ist Gavrilovs Beschreibung z.B. des deutschen Konzertpublikums während seiner Konzertreise 1976. In Köln, so der O-Ton, „zerschlug das Publikum die Stühle. Diese Konzertreise machte mir bewusst, dass in den Deutschen ein heißes Feuer brennt.“ (S. 91)
Auch seinen Lebens- und Sinnkrisen widmet der Autor nicht wenige Passagen. Besonders lustig ist die Beschreibung einer Vorlesung und dem anschließenden Disput in dem Dachatelier des inoffiziellen, in der Zwischenzeit weltberühmten Malers und Grafikers Ilja Kabakov, wo sich damals die „Moskauer Carbonari“ (Begriff für Salon-Intellektuelle im 19. Jahrhunderts) regelmäßig trafen. Andrei hört einem gewissen Trawkin zu, wie er über Gott redend sich anschließend mit den intellektuellen Kahlköpfen einen ziemlich absurden Disput liefert, den Gavrilov „Quetzalcoatl und Tezcatlipoca“ nennt. Hier entfaltet sich sein urkomisches Talent, wenn er beschreibt, wie er vom Dachboden flüchtet und dabei zwei Gorillas beobachtet, die die Versammlung der „Verschwörer“ überwachen. Ebenso köstlich ist Gavrilovs satirische Beschreibung der Feierlichkeiten zu Breschnews 70. Geburtstag!
Ein Drittel des Textes ist Gavrilovs inniger Freundschaft zu Slawa Richter gewidmet. Dankbarkeit für die Förderung seines Talents, aber auch gnadenlose Abrechnung mit Richters Ergebenheit gegenüber dem Regime, eingehende Schilderung der periodisch wiederkehrenden Depressionen des Meisters, aber auch der tolerierten sexuellen Freizügigkeiten – in solchen Erzählpassagen verblüfft immer wieder die lebendige Wiedergabe von Dialogen, die den Erzählfluss vorantreiben. Diese narrative Eigenschaft weisen auch andere Texttypen wie Briefe, kulturhistorische Reflexionen und kursiv gesetzte Zwischentexte auf, die der Autor benutzt.
Einen hohen Grad an Authentizität besitzen auch die Berichte über die Erpressungsmethoden des KGB in den Jahren 1979 bis 1985, in denen Gavrilov mit Reiseverbot bestraft war und die kriminelle Überwachungsagentur sich in seine intimsten Beziehungen einmischte. So wurde seine japanische Ehefrau gezwungen, aufgrund des absurden Vorwurfs der Spionage die Sowjetunion innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Anschläge, Morddrohungen wie auch Schikanen gegenüber seinen Verwandten folgten. Es lohnt sich, diese Passagen (S. 271ff.) sorgfältig zu lesen, um ansatzweise zu begreifen, mit welchen kriminellen Methoden die Staatssicherheit Gavrilovs Leben zu zerstören versuchte. Nicht zuletzt aus diesen Gründen, den psychomentalen Folgen dieser staatlichen Repressionen und sogar Mordanschlägen, war er mehrmals gezwungen, in Sanatorien sich ausheilen zu lassen.
„Der Pianist, der aus der Kälte kam“ – mit diesem Klappentext wirbt der Verlag. Es klingt wie ein Slogan aus einem kalten Krieg, der sich gegenwärtig zwischen der post-sowjetischen und der westeuropäisch-amerikanischen Allianz von neuem abzeichnet. Dienen solche musikkulturellen und polit-atmosphärischen Lebensbeichten der Aufdeckung von Unrecht oder bedienen sie nur bekannte, klischeehafte Denkmuster? Beide Vermutungen erweisen sich nur in groben ideologischen Konstrukten als gerechtfertigt. In den Tiefenstrukturen der vorliegenden Darstellung lodern weitaus schlimmere Brandherde, die von der drohenden Auslöschung ethisch-moralischer Restbestände menschlicher Verhaltensweisen verkünden. In diese – immer noch intakten Reservoire musikalischer Sphären – will Andrei Gavrilov zumindest für die Dauer seiner Konzerte vorstoßen. Ob allerdings die Chopinschen Nocturnes in der Welt seiner Zuhörer bestimmte ethische Spuren hinterlassen, bleibt für den Pianisten gleichsam ein frommer Wunsch. Was nicht ausschließt, das er als Autor einen unbedingt lesenswerten Einblick in die staatlich reglementierte Musikszene der Sowjetunion bietet. Schade nur, dass die inkonsequente Transkription der Eigennamen und einige Druckfehler den insgesamt überaus positiven Eindruck ein wenig stören. Doch das betrifft nur den fachlich versierten Leser!