Periodische Denkbewegungen

Das Mündliche reicht nie, um es zu drucken.

Herta Müller

In einem Zustand der permanenten Debattenerregung ist das Publikum umstellt von Themen. Selbstverwirklichung lautet das Zauberwort der modernen Welt. Ein erfolgreiches Leben führt demnach, wer unter den grotesk vielen Möglichkeiten die richtige wählt. Künstler wie Zuschauer verstehen sich auf immer kürzere Reaktionszeiten. Ins Gerede kommt man im Geschwätzigkeitskarussel der Medien sofort. Besser ist es, wenn Künstler ein Kollegengespräch führen, so wie in dem jüngst erschienenen Buch Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse. Hier ein Auszug:

Karl Heinz Hosse in seinem Atelier. Photo: Dieter Meth

Zeitnah (wieder hier): Die Sehnsuchtsmotivik also soll zum Thema werden? Jenes Unerreichbare, das uns hoffen und bangen lässt? Aber kann heute, gefühlte 200 Jahre später, dieses hehre Ansinnen noch Gültigkeit haben? Womit würden wir jene Sehnsucht noch füllen können? Füllen wollen? Wäre es noch das Sehnen nach Natur, nach der Ferne, der Mystik, dem Religiösen? Hätte es nach Jahrhunderten noch Sinn, sich zurück ins Mittelalter zu wünschen, wie es die Alten taten? Glauben wir in diesen allzu aufgeklärten Zeiten denn wirklich an das Mystische oder ist es nicht vielmehr ein virtuelles Spiel? Gelddruckmaschine für die Unterhaltungsindustrie. Die Geister, die ich heraufbeschwor, heute sind sie längst gebändigt. Aber vielleicht hast du doch recht, vielleicht.

Zeitfern: Fünf große Einsen am Himmel. Kraniche. Diese wehmütigen Schreie / Rufe im Herbst. Die hörten die Menschen im Mittelalter auch schon. Hatten die gleiche Wehmut im Herzen. Heute der Spaziergang an der Ruhr entlang. Die Kraniche oben. Die Rufe im Herzen. Ich. Vor mir eine Mutter mit Sohn. Sie haben nicht einmal aufgeschaut. Warum hörten und reagierten sie nicht? Nichts habe ich verstanden. Ist es eine andere Zeit? Romantik, was bedeutet das jetzt? Ich weiß es nicht. Bin ich aus der Zeit gefallen? Mein lieber „wieder hier“.

Zeitnah (kurz im Interim): Fatal wäre es, vom Einzelnen auf eine ganze Epoche zu schließen. Das Fallen aus der Zeit ist natürlich nur gedanklich möglich. Erwartest du etwa, dass alle anderen die Welt mit deinen Augen sehen, deinen Ohren hören, deinen Händen fühlen? Dass sie schmecken und riechen wie du? Sogar ihr Gleichgewichtssinn ist ein anderer. Wie soll es da erst mit ihrem Wehmutssinn und ihrem Sinn zum Sehnen aussehen? Du verstehst deine Welt hier und hier und hier und jetzt in unserer Zeit. Da hast auch du keine Chance herauszufallen.

Geschriebene Sätze verhalten sich zu den gelebten Tatsachen eher so, wie sich das Schweigen gegenüber dem Reden verhält. Wenn ich Gelebtes in die Sätze stelle, fängt ein gespenstischer Umzug an. Die Innereien der Tatsachen werden in Wörter verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort.

Herta Müller

Die zitierte Passage von Haimo Hieronymus und Karl Hosse dokumentiert, die beiden Freunde führen auf Augenhöhe über den großen Altersunterschied hinweg mit großem Respekt eine mäandernde Unterhaltung. Da findet sich jedoch nicht Kryptisches oder gar Labyrinthisches, alles ist offengelegt. Einfache Gedanken in einfacher Sprache. Vom Hölzchen aufs Stöckchen springen sie, ohne auch nur ein Fettnäpfchen auszulassen oder zuweilen in den Sumpf des Banalen abzurutschen. Fast ein Jahr lang haben sie sich hierzu handschriftlich in einem Buch getroffen, welches in Karl Hosses Atelier öffentlich auslag. Haben aufeinander reagiert, aneinander vorbei argumentiert und lesbar Freude am Spiel gehabt. Natürlich verzetteln sie sich ganz bewusst und lustvoll. Sie sprechen über Vergangenheit, Wahrnehmung, Kunst und alles, was zum Leben gehört, Nebensächlichkeiten und Liebe, Tod, Zweifel, die Lust am Leben wie Leiden. Das Originalmanuskript wurde ohne grundlegende Veränderungen direkt übernommen, lediglich auf Interpunktion und Orthografie überarbeitet. So ergibt sich ein sehr direkter Eindruck in das jeweilige Denken und immer wieder können die augenzwinkernden Gedankensprünge in Sackgassen führen, ohne dass dies unangenehm wird. Denn glücklicherweise wissen sie im entscheidenden Moment immer, wo der Rückwärtsgang liegt, dass man nicht unbedingt ungebremst jede Mauer rammen muss.

 

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Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse in der Edition Das Labor, Neheim 2014

Das Gezeitengespräch entstand in der Werkstattgalerie DER BOGEN in Arnsberg – Neheim. Die Bilder unterliegen dem Kopierrecht der Künstler. Das Buch erscheint in einer ersten Auflage von zweihundert Exemplaren bei EDITION DAS LABOR, Verlag der Artisten.

Weiterführend

Lesen Sie bitte auch das Kollegengespräch zwischen Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni, es ist eine Ergänzung zum Projekt Kollegengespräche. Zum Thema Künstlerbucher lesen Sie bitte auch den Artikel von J.C. Albers.