Poetologische Positionsbestimmung

 Das Gedicht war eine ungeheure Erfindung. Das ganze Menschheitswissen wurde in gebundener Sprache überliefert.

 Ernst Pöppels

Kurze Vorrede, mit der freundlichen Bitte um etwas Geduld: Mein Gehirn ähnelt einem Muskel, es bleibt nur fit, wenn ich es beständig trainiere. Wichtig ist, dass ich etwas Sinnvolles lerne – etwas, das mich erfüllt. Daher begeistere mich für die Poesie und lerne daher Gedichte auswendig. Gedichte haben den großen Vorteil, dass sie zentrale Menschheitsereignisse wiedergeben: Trauer, Freude, Tod, Lust und Liebe sind Themen, mit denen sich viele Dichter beschäftigt haben.

Der Ausdruck, das sinnliche gewöhnliche individuelle des Gedichts, bleibt sich immer gleich, und wenn jede der verschiedenen Partien in sich selbst verschieden ist, so ist das erste in jeder Partie gleich dem ersten der andern, das zweite jeder Partie gleich dem zweiten der andern, das dritte jeder Partie gleich dem dritten der andern.

Friedrich Hölderlin

Nur die Lyrik gibt dem Verstand die Möglichkeit Sätze, Bilder und Musik zusammenzudenken. Ein Gedicht wird nicht nur im horizontalen Textverlauf rezipiert, sondern muss im Leseprozess auch mit jenen vertikalen Verbindungen versehen werden, welche die Position eines Elements im Zusammenhang mit jenen gleicher Positionierung kennzeichnen. Dichter fügen Worte aneinander, die niemals von selbst zueinander fänden, zwischen denen jedoch eine Anziehungskraft besteht. Wenn man sich ein Gedicht laut vorliest, kann man sich auf jemanden beziehen, der die gleichen Erlebnisse hatte wie der Lyriker. Das Gedicht ist eine ungeheure Erfindung, es ist die folgenreichste Verschwörung, die uns die Kulturgeschichte jemals geschenkt hat, die Konspiration der Dichtung. Bevor es die großen Schriften gab, wurde das ganze Menschheitswissen in gebundener Sprache überliefert. Gedichte lassen sich nicht referieren. Allenfalls darf man sie befragen:

Was geschieht in ihnen?

Was geschieht durch sie?

Was muß ein Dichter tun, der nach dem Ursprung der Dichtung sucht?

Lyraspielerin, von Pearson Scott Foresman

Diese Achtung vor der Mehrschichtigkeit der im Gedicht Form gewordenen Sprache ist das Thema der Kulturnotizen (KUNO). Lyrik ist mehr als wenig Text auf viel weißer Fläche, sie ist der Jazz der Literatur. Gedichte inszenieren sprachliche Verwerfungen und platzieren sie in einem ästhetischen Gesamtzusammenhang. Dichtung lebt im Zustand beständigen Wandels. Wir präsentieren in diesem Online-Magazin die formale Spannweite vom fünffüßigen Jambus über das Langgedicht bis hin zum Figurengedicht und der Wortfeldmetaphorik. Vom Lyrikboom ist die Rede, doch niemand vermag es die Tendenzen innerhalb der Gegenwartsdichtung auf einen Begriff zu bringen. Ist Lyrik im deutschsprachigem Raum ohne Beatmungsmaschine überlebensfähig?

Ein Gedicht ist entweder ein Rätsel oder ein Geheimnis.

Ruth Klüger

KUNO will Räume schaffen, statt sie zu verengen, den Blick auf Details legen, Wert auf feine Nuancen legen und dennoch nicht das Gesamtbild aus dem Auge verlieren. Die Redaktion befragt Gedichte nicht nur auf einen absoluten ästhetischen Wert hin, dessen Vorgaben durch einen bestimmten Kanon und eine nur auf Innovationen ausgerichtete Literaturgeschichte bestimmt sind, sondern auch nach den Wirkabsichten und den damit zusammenhängenden, zur poetischen Redeweise gehörenden rhetorischen Überzeugungsstrategien und Produktionsbedingungen. Wenn jemand wie der ehemalige Kritikerpapst Marcel ReichRanicki einen Kanon einfordert, wünscht er sich eine Ordnung und will, daß alle dieselben Romane lesen.

Vor allem anderen attackieren wir die Sprache. Sie ist die schlimmste aller Konventionen.

André Breton

Dichtung ist diachronisch, sie entsteht aus dem Ineinanderverwobensein aller Zeitformen und sorgt für die Gleichzeitigkeit des zeitlich Beziehungslosen, die Metapher als Figur des Zeitlichen beziehungsweise des Omnitemporalen ermöglicht die Wiedergewinnung des Verlorenen und dessen Verewigung. KUNO geht darum die Funktionsmechanismen der Texte herauszuarbeiten, zu zeigen, wie Form und Sprache ineinandergreifen. Gedichte in diesem Onlinemagazin zu präsentieren und zu interpretieren ist für die Redaktion keine trockene literaturwissenschaftliche Fingerübung.

In unserm Leben wimmelt es von Anachronismen. […] Zu den merkwürdigsten Erscheinungen dieser Art gehört zweifellos das Schreiben und Lesen von Gedichten, und, a forteriori, jegliches Raisonnieren über diese Tätigkeiten.

Hans Magnus Enzensberger

Lyrik versucht die Leser auf ein ungesichertes und ungeklärtes Terrain zu locken, in der Sprache nicht mehr der Kommunikation, sondern vor allem der Verunsicherung des Subjekts dient. Die Differenz von Lyrik zu anderen literarischen Schreibweisen macht KUNO an einer poetischen Differenz fest, die – analog zur ontologischen Differenz, an deren Materialität, mithin an ihrer Gestaltung auf der digitalen Textfläche gebunden ist.

Bilde, Künstler, rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht!

Johann Wolfgang von Goethe

KUNO entwickelt eine postmetaphysische Begrifflichkeit und eine Phänomenologie der Lyrik, liest philosophische Essays und widmet sich der genauesten Lektüre von Texten und der Freilegung von Sinnschichten unter ihrer scheinbaren Homogenität, und einer Kritik jeglicher Wesensaussagen. Die Geste der Dekonstruktion als weder kritischer noch perpetuierender Geste ist eben nur im Innern des Literaturbetriebs möglich. Lyrik hat immer schon das Ende der Ideologien und Gewissheiten präfiguriert. Sie zielt auf das Offene, indem es das Gegebene aller Gegebenheit entzieht.

Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.

Gottfried Benn

Die Dekonstruktion der Literatur ist also im doppelten Genitiv zu verstehen, sie setzt die Lyrik frei ins Offene und raubt der Dekonstruktion den Hochmut, die einzige entwickelte Kritik zu sein. Wer äußerlich stillsteht, entfaltet ein bewegtes Innenleben, daher ist die Lyrik dazu prädestiniert Innenräume offenzulegen. Im 19. Jahrhundert fand eine Verschiebung von einem auf Affekten beruhenden Ausdrucksbegriff zu einem ästhetischen Begriff des Ausdrucks statt, gleichfalls entstand ein Zeichenbegriff, dem zufolge Zeichen keinen referentiellen Bezug nach außen mehr haben, sondern auf nichts als sich selbst verweisen. Oder um noch einmal Goethe zu bemühen:

Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste übriggeblieben.

Im 20. Jahrhundert finden wir vor allem politischen Lyrik, stellevertretend seinen Bertolt Brecht, Pablo Neruda, Peter Huchel und Hans Magnus Enzensberger genannt. Die Bedeutung dieser Lyrik ist nicht der Motor der poetischen Formbildung, sondern als deren Produkt der Inhalt ist ein Teil der Gedichts- sowie der Geschichtstruktur. KUNO erinnert an Gedichte, wie Paul Celans „Todesfuge“ und Günter Eichs „Inventur“, aber auch an Gottfried Benns Diktum:

 

Keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen und Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination.

In Benns Fall ist es der Gedichtzyklus Morgue. Er hat um seine Beschränktheit gewußt, wie sonst hätte er sich nach der Machtergreifung den NAZIS angedient. Nicht jeder dieser Autoren hat Enzensbergers Selbstirone, der ein Gedicht als „Unpolitische Vorlieben“. Und ob man His Bobness als Lyriker bezeichnen kann, hat KUNO an anderer Stelle thematisiert.

Die Sprache der Poesie ist Sprache in höchster Potenz und Aktion, sie umfasst virtuell die komplette linguistische Armatur, in der alle Register zwischen Alltagsrede und Fachsprache vereint sind.

Roman Jakobson

Durch die neuen Begriffe von Ausdruck und Zeichen geriet das Subjekt in der Lyrik im 21. Jahrhundert in ein Ausdrucksparadox: einerseits begegnete es einem erhöhten Anspruch an Selbstdarstellung; andererseits unterminierte die Selbstbezüglichkeit des sprachlichen Zeichens jegliche authentische Darstellung. Seither gint es eine Konstellation in lyrischen Texten, in denen das Ausdrucksparadox nicht zu einem akzeptierenden Umgang mit diesem führt, sondern immer wieder neu ausgetragen werden muss. Durch das Beschreiben des Unbeschreiblichen, bleibt die Poesie dem Ursprung der Sprache nah. Das moderne Subjekt versucht, das eigene Bewußtsein aufzulösen, um die Differenz zur Welt schließen zu können.

Der Impuls zu Gedichten [ist] eine Art zu atmen, eine Art zu gehen, eine Art sich auszusetzen. Er wendet sich allein den Dingen zu, Materialien und Prozessen, die durch die oszillierenden Körpergrenzen in mich einzutreten scheinen, manche durch offene Türen wie höfliche Gäste, die ihren Namen sagen und Geschenke mitbringen, andere wie ungebetene Eindringlinge, als schrille Bilder und Silben, die roh die Fenster einschlagen, verletzliche Häute zerreissen, alle Nerven blosslegen.

Brigitte Oleschinski

Als der russische Literaturtheoretiker Wiktor Schklowski in seinem Aufsatz Kunst als Verfahren 1916 den Begriff ‚ostranenie‘ schuf, arbeitete er damit die Unwägbarkeit von Poesie heraus, die Fähigkeit, daß Worte ihre Bedeutungen verfremden können und gerade deshalb Leserfantasien erzeugen: „Alltägliches Sprechen ist automatisiert, Menschen erkennen Wörter wieder, ohne sie zu empfinden; Literatur erschwert den Verstehensprozess und revitalisiert dadurch die Empfindung.“ Gedichte können uns sicher schweben machen im Sturz des Daseins. Auf rätselhafte Weise ist Lyrik mit Ethik verknüpft und die poetische Disziplin mit der Tapferkeit des Geistes. Im Gedicht sollten Vergangenheit, Tradition, Maß importiert werden in eine verfallende Welt. Wie aber, wenn die Vergangenheit von allem Anfang an verloren ist?

Einen Gedichtband schreiben ist wie Rosenblüten in den Grand Canyon zu werfen und auf das Echo zu warten.

Don Marquis

Wenn die Literatur ein Randphänomen unserer Gesellschaft ist, dann gilt das erst recht für Gedichte. Lyrik ist eine Form der Literatur, die nicht Marktgesetzen unterworfen ist, weil sie nicht erfolgreich sein muß. Lyrik, das ist eine Vielzahl von poetologischen Konzepten und Orte des Dichtens. Lyrik ist an die Wirklichkeit gebunden und gleichzeitig führt sie ein Eigenleben. Lyrik will infrage stellen, das Denken aufwirbeln und die Wahrnehmung erweitern. Lyrik ist eine vokabuläre Verausgabung. Zu den Eigenarten von Gedichten zählt es, daß der Leser das Gefühl hat, nach der Lektüre schlauer zu sein als vorher, mag er auch nicht aus allem klug werden. Der Literatur indes sind manichäischen Zuspitzungen und Vereinfachungen noch nie gut bekommen. Die Gegenwartslyrik ist hochgradig anerkannt, wird vielfach ausgezeichnet, aber das Risiko, ungelesen oder mißverstanden zu bleiben ist größer als je zuvor.

Mitten im Geäst und Gestrüpp und Gestrüpp bezieht das Gedicht einen Beobachtungsposten, von dem aus die Umwelt, bis in die Schlupfwinkel, erfasst werden kann. Die Verse tasten ihr Gefängnis ab, um es kennen zu lernen – gleichzeitig aber nach einem Ausweg.

Walter Höllerer

In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen schrieb Friedrich Schiller, der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch sei, und er fügt hinzu, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Wir interessieren uns auf KUNO vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen; und begleiten Autoren, die stetig an einer Auflösung aller festen semantischen Bindungen arbeiten. Etwas Kindliches gehört zum Wesen eines jeden Künstlers, mehr noch: zum Wesen auch jener, die, ob selber Künstler oder nicht, das Musische und das Artistische so ernst nehmen, dass sie sich ihre Existenz ohne Kunst, ohne Literatur nicht mehr vorstellen können. In diesem Sinne können sich die Leser auf dieses Online-Magazin verlassen: Wir werden weiterhin mit kindlicher Neugierde, mit jugendlichem Staunen und nicht nachlassende Begeisterungsfähigkeit über Lyrik und Literatur, über den Film und natürlich auch über die Kunst und den Pop-Phänomene schreiben. Wer die Lyrik der Gegenwart näher kennenlernen möchte, sollte eingefahrene Rezeptionshaltungen aufgeben. Gelungene Poesie besitzt Selbstevidenz.

Schon der flüchtigste Blick in eine beliebige Anthologie zeigt: am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist Lyrik ein Sammelsurium aus Register-Arien für das Banale geworden, ein rhythmisierter Versandhauskatalog.

Durs Grünbein

In der Minima poetica fragen wir uns bei KUNO wo man die Elemente des Gedichtes findet. In der Lyrik des 21. Jahrhunderts nimmt das Ich eine neutrale Position ein, sodaß sich aus der Richtung eines unbestimmten Subjekts die Gedanken bilden können. Wir bewegen uns bei KUNO auf der Suche nach Wahrheit in Interpretationen und müssen lernen, in den ausschliesslich durch unsere Interpretationen geknüpften Bedeutungsnetzen zu leben. Das Ich in der Lyrik sei nicht als einzelne Person konstruiert, es entspricht vielmehr einem Wir. Gemeint ist jedoch nicht ein Wir in seiner eigentlichen Verwendung, sondern in einer abstrakten Form, die verschiedene Instanzen darstellen und somit mehr einem Raum als einem Körper entspreche, der viele und vor allem unterschiedliche Standpunkte einnehmen könne. Das Ich entzieht sich.

Weiße Milch der Kühe wir trinken sie täglich

Monie Schmalz

Lyrik besticht durch ihre völlige Nutzlosigkeit, sie ist im strengen Sinne nicht zu gebrauchen, Poesie ist im 21. Jahrhundert überholt und untergegangen, glücklich überwunden oder zu Unrecht vergessen; der Wahrheitsgehalt ist manchmal zweifelhaft. In der Lyrik der Gegenwart gibt es verschiedene Strömungen: eine avancierte Poesie eine sprachexperimentelle Richtung, von Dichtern deren Gedichte von der Arbeit mit der Sprache leben. Sprach-Archäologen, die bereits vorhandenes Material neu arrangieren. Lyriker die bewußt Formen aufgreifen und damit auf neue Weise spielen sind einer formbedachten Poesie zuzuordnen. Die meisten jungen Lyriker sind neuerdings Vertreter einer reflektierten Poesie, sie arbeiten mit einem avancierten Anspruch, verweigern sich aber nicht dem Leser. Es gelingt ihnen auf hohem sprachlichem Niveau eine Poesie zu entwickeln, die gleichermaßen neu wie reflektiert ist. Ob sie damit noch ein Publikum erreichen wird sich noch erweisen.

Aber Gedichte sind, ich möchte sagen keine private, vielmehr eine universale Sache. Für jedes neue Gedicht braucht man eine neue Orientierung, jedes neue Gedicht ist eine neue Balance zwischen dem inneren Sein des Autors und dem äußeren, dem historischen, dem sich mit dem Heute umwölkenden Geschehen.

Gottfried Benn

In der neuen Lyrik ist ein Crossover des sprachlichen Stilniveaus zu erkennen. Der freie Vers reist, wohin er will. Das Ziel eines Gedichts ist es, die durch die Medien funktionalisierte Sprache wieder unbekannter zu machen. Mit Lyrik – oder der neuen Gattung der Twitteratur – begegnen wir der Sprache mit Lesegewinn unvertrauter, weil diese Kunstformen der Sprache die Selbstverständlichkeit entziehen. Die gebundene Sprache ist begrenzt durch Gesetzmäßigkeiten und schränkt die Handlungsfreiheit des Schreibenden ein. Das lyrische Schreiben ist subjektiv motiviert, muß jedoch in seiner sprachlichen Verfaßtheit das Subjekt hinter sich lassen muß, um kommunikativ sein zu können. Lyrik fungiert als Sprache der kulturellen Wurzeln, der mythischen Rückbindung an ein verloren geglaubtes Paradies, als Sprache, die eine verborgene oder vergessene kulturelle Tradition und Verankerung ans Licht und buchstäblich zur Sprache bringen soll.

Ich glaube, dass es der Literatur schadet, wenn man ununterbrochen schreibt, um den Markt regelmässig zu bedienen, wie es heute so üblich ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.

Ilse Aichinger

Die Langsamkeit aus sprachskeptischer Einsicht bewegt auch KUNO dazu, sich auf einen Beitrag pro Tag zu beschränken. Das Schweigen als Hauptsache ist – nach Aichinger – der Ausgangspunkt einer substanziellen Poetik, die Voraussetzung für eine gültige Gedichtzeile. Wer sich mit Gedichten beschäftigt, ist ein Grenzgänger, er wandelt zwischen den Kulturen, verkörpert hybride Identitäten, die Ethnie und Geschlecht längst hinter sich gelassen haben. In der Postmoderne, wo jede Fixierung nur noch als Nachwirken eines überholten Einstmals abgetan wird, erscheint nichts so flexibel wie das Ich. Welt und Ich zerfallen in ein Geflimmer einzelner Wahrnehmungen, ohne dass es für beide ein Zentrum gäbe; das Ich ist bodenlos, und die Welt ordnet sich nicht mehr zu einer Idee. Die lyrischen Entwürfe zeugen von einem weitaus differenzierteren Blick auf die Welt, vor allem ist er alles andere als bloßer Relativismus. Es gibt Anzeichen dafür, daß Lyrik inzwischen nicht mehr nur glückselige Flucht ist, sondern auch eine Konfrontation mit dem hybriden Selbst. Poesie wird zu einer Form des nichtalltäglichen Sprechens.

Wenn ich es physisch spüren kann, dass meine Schädeldecke abgenommen wird, weiss ich, das ist Dichtung.

Emily Dickinson

Wir sind auf KUNO Gegner von Defensivhaltungen und der Angst, die mit diesem Nischendasein der Lyrik verbunden ist. Der Rechtfertigungsdruck für eine Kunstform, der quantitativ bestimmt ist, sollte kritisch hinterfragt werden. Es geht mir gar nicht darum, so zu tun, als wären zeitgenössische experimentelle Lyrikformen populär, aber es geht darum, welche Bedeutungen diese Praktiken haben, was sie sichtbar machen in einem Umfeld, das immer mehr auf Profit und Wachstum ausgerichtet ist. Wie alle Techniken hat auch das Schreiben eine paradoxale Doppelfunktion: Es entbindet den Schreibenden vom Leben, denn wer schreibt, nimmt nicht am Alltag und Sozialleben teil. Gleichzeitig dient Schreiben, literarisches zumal, der Intensivierung und Feier des Lebens, es ist fortdauernde Übung, Wiederholung, ein grosses Nochmal. Verschwunden ist die Möglichkeit, die Wirklichkeit erzählend in einen bruchlosen Zusammenhang zu fassen. Die elektronischen Medien wollen vermitteln, was zusammengehören will und doch nicht zusammenkommen kann.

Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen.

Thomas Kling

Das Gedicht bietet Raum für sehr vieles. Nicht allein das zagende Ich hat darin Platz, sondern auch das denkende und forschende. Wir bevorzugen auf KUNO Gedichte, bei denen man sich erst einmal die Mühe machen muß, einen Gegenstand zu durchdringen, seine Machart, sein Ansinnen zu verstehen, Kritik zu formulieren, um in einem zweiten Schritt dann zu begründen, warum man ein Gedicht für gelungen hält oder eben auch nicht. Klingt nach einer Banalität. Wird aber leider allzu oft vergessen, im Leben wie in der Literaturkritik. Denn Gedichte bestehen aus Wörtern, Prosa besteht aus Sätzen. Verse sind natürlich oft auch Sätze, aber keineswegs immer, und vor allem ist das Wort im Gedicht die entscheidende Größe, der Satz, die Syntax, ist immer untergeordnet.

Der Dichter ordnet die Sprache in kurzen Sätzen.
Was über ist, ist das Gedicht selber.

Ernst Herbeck

Das Gedicht muss „sein Schweigen im Gelärm der Jetztzeit“ behaupten, schrieb der 2009 verstorbene französischen Dichter und Dichtungstheoretiker, Sprachphilosophen und Bibelübersetzer Henri Meschonnic: „Die Frage nach dem Gedicht (wie auch die allfällige Antwort darauf) schließt bei ihm – noch eine Provokation! – den Dichter und sogar die Dichtung aus: Das Gedicht, so betont er stets aufs Neue, entsteht im Gegenzug zur Dichtung und auch im Gegenzug zum Willen des Dichters. Es entsteht, um für sich selbst einzustehen, und es selbst ist die Gesamtheit dessen, was jeweils in ihm verwahrt ist und aus ihm spricht: ein ‚Ich – hier und jetzt‘, mithin ein geschichtlicher Moment, aber auch eine ‚poethische‘ Qualität, in der ethische und poetische Komponenten zu einem (zu seinem) ‚Wert‘ fusionieren: ‚Unaufhebbare Interdependenz und Interaktion von Sprache, Wirklichkeit und Ich.'“

In Amerika werden Gedichte nur noch von Lyrik-Professoren gelesen, die Studenten unterrichten, welche wieder Lyrik-Professoren werden.

Gary Shteyngart

Lyrik hat gegenüber Prosa den Vorteil, sich leichter vom Alltagsjargon und dem Dienst an der profanen Mitteilung lösen zu können, um das auszusprechen, was sonst versteckt, verdrängt und vergessen bliebe. Lyriker haben die Freiheit das Privatsprachliche schöpferisch nutzbar zu machen. Nimmt man den Gedanken ernst, dass für viele Outsider Lyriker keine rigide Trennung zwischen Kunst und Handwerk besteht, sind sie die Underdox unserer Ära des Hybriden und Diffusen. Wer Bildungsreisen nicht verachtet, sollte sich der Poesie anvertrauen, und diese hier ist äußerst erhellend, preiswert außerdem. Es gehört zur Tradition der Weltschmerz-Poesie, das eigene Schreiben als Rettung anzusehen. Lyrik kann sich jedoch nicht mehr in eine abstrakte Welt des L’art pour l’art zurückziehen, sie vermittelt ihren Realitätsbezug mit einem komplexen Spiel der Bedeutungsverschiebung und semantischen Ambiguität. Wir verteidigen auf KUNO den Mut, sich seiner eigenen Autonomie zu bedienen.

Das Gedicht ist die Verwandlung einer Sprachform durch eine Lebensform und die Verwandlung einer Lebensform durch eine Sprachform

Henri Meschonnic

Gedichte entstehen, wo Körper und Sprache auseinandertreten, wo willentliches Sprechen, die Sprechbarkeit der Kontrolle endet. Lyrik sollte der Kommunikation dienen, selbst wenn sie darin besteht, die Kommunikation einfach abzubrechen, wenn sich gerade eine Selbstverständlichkeit eingestellt hat. Wo Wissen – Soziokognition, Gefühlswissen, Empathie, Intuition – hinausragen über den unmittelbaren sprachlichen Zugriff. Mit Hilfe der Poesie erreichen Leser diese Orte, in denen sie selbst nicht mit uns kongruent sind, ihre Körperschichten nicht exakt aufeinanderpassen. In diesen Bereich inkongruenter Körperschichten, den Bereich des Wissens an der Grenze zur Sprache, führt allein die Eigenbewegung der Sprache. Lyriker sind Menschen, die in wenigen Worten sehr viel sagen können. Dies kommt der Zeit der Beschleunigung und Entschleunigung in doppelter Weise und also passgenau entgegen.

Gedichte sind Balsam auf Unstillbares im Leben.

Caroline von Schelling

Ähnlich wie die Gattung Twitteratur sind Gedichte verdichtetes Wissen und komprimierte Erfahrung. Auf kleinstem Raum und in der kürzesten Zeiteinheit kommt hier einiges an gedanklicher und sprachlicher Komplexität zusammen. Sie sind das Remedium par excellence gegen Zerstreuung, weil die darin gestundete Zeit in der Langsamkeit der Lektüre ihr Gegenrecht einfordert. Schreiben schafft Kontinuität, stellt sich der Verzweiflung, dem Näherrücken von Alter und Tod entgegen. Das ist in diesem Jahr auch bei KUNO nicht anders, was nach Schwanengesang klingt, sollte man vielleicht doch nicht allzu wörtlich zu nehmen, denn bereits 1926 befragte Majakowski in der Erstpublikation des Gedichts „Gespräch mit dem Finanzinspektor über Poesie“ ob die Dauerwirkung echter Poesie beziehungsweise die Impotenz von Trash-Dichtung wohl bei deren Besteuerung zu Buche schlügen. Das Leiden geht weiter, das Schreiben auch. Und die Fragen hören nimmer auf:

Wo verläuft die Gattungsgrenze zwischen Lyrik und Prosa?

Wie setzen sich beide voneinander ab?

Für Autoren, die sich in beiden Genres heimisch fühlt und oftmals Verbindungen zwischen ihnen schafft, steht die Kunst der Überschreitung im Vordergrund. Die Präsentation von Lyrik auf KUNO läßt sich in drei Gruppen von Texten auffächern: Erstens Arbeiten zur Literatur, zweitens solche zur Kunstgeschichte und drittens die Texte, die in grundsätzlicherer Form versuchen, eine Art Gebrauchsanweisung für die Feldtheorie zu geben. Lyrik ist eine hybride Sprache, in dem sie außersprachliche Rhythmen in sich aufnimmt, die mithilfe ihrer extrem geregelten und gebundenen Weise gegen die Allmacht der Zeit ins Sprachfeld rückt. Und sie bleibt dies gleichsam ex negativo auch dann, wenn sie durch die harte Schule moderner Literatur gegangen als aktuelle Dichtung in Verszeilen ihren Auftritt hat, fern von bestimmbaren Rhythmen und tradierten Metren und Reimen.

Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller; das will besagen: Einsamkeit, die die Möglichkeit hat, sich anzuvertrauen.

René Char

Lyrik bleibt im 21. Jahrhundert eine hypertrophische Gattung, schließlich ist das Leben ständiges Werden und Wachsen, stetige Revolution. Poesie hat kein Ziel, sondern einen Grund als freies Schöpfertum überschreitet die einseitige Wiedergabe des Gesehenen. Eingefahrene Wahrnehmungen werden durchbrochen und mit neuen Zusammenhängen erlebbar gemacht. Die Kulturnotizen aus knapp 30 Jahren belegen, wie wenig Kanonisierungsprozesse mit der Substanz ihrer Gegenstände zu tun haben und wie sehr es doch um die Geschichten geht, die sich um die Gegenstände herum erzählen lassen, und darum, wie gut die Geschichten sich mit dem vereinen lassen. Den Kampf für die Poesie gibt man nicht auf, nur weil man ihn verloren hat.

Der Dichter im Zeitalter seiner vermeintlichen Entbehrlichkeit, unter den Bedingungen der Warenförmigkeit aller Kunstproduktion, ist ein Anachronismus, ein Exot und ‚anthropologisches Monstrum‘

Peter Rühmkorf

Peter Meilchen, porträtiert von Jerko Hagen

Randständigkeit ist das Lebensprinzip der Poesie. Vom Rand aus arbeiten wir auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Das Labor ist ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten 25 Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphatasie daherkam. Über die allmähliche Verfertigung einer projektbezogenen Arbeit erfahren Sie im Konzept der Edition Das Labor. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition. Weitere Porträts finden Sie in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz, Sibylle Ciarloni und Joanna Lisiak. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

Und nicht zuletzt der Nachruf auf Peter Meilchen.

Ach und O sind zwei Gedichte, die jeder versteht. Und verhältnismässig kurz, sie erfordern keine langjährige Übung im Lesen. Ob sie jedem gefallen, ist eine andere Frage, sie passen nicht, wenn man den schönen Götterfunken voraussetzt. Bravo oder bis bis wäre da viel besser, aber nicht so kurz. Jedenfalls führt Schwermut in die Anarchie, so einfach ist das. Entzückt verzehrt der Wolf sein Bein, das ihm ein Tellereisen abgerissen hat. Gesegnet sei der Tag, der mir Nahrung gab, ruft er. Eine tabula rasa ist besser als ein leerer Tisch, von der fabula rasa kam ich darauf, die Welt ist ein Druckfehler

Günter Eich

Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott KUNO dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet bereits in 2007, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Auch sein Eckermann Theo Breuer findet als Literaturvermittler von KUNO eine  dankende Beachtung. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik eine Anthologie zeitgenössischer deutschsprachiger Dichtung. Ein Porträt von Peter Ettl und der Edition Silver Horse finden Sie hier. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklare Lyrik von Ines Hagemeyer.

Lyrik ist die Sprache, die uns denkt.

Wolfgang Berends

Nicht nur Gott, auch die Lyrik ist schon oft für tot erklärt worden. Von der Sporaden-Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum des 7. vorchristlichen Jahrhunderts bishin in die pannonische Landschaft des 21. Jahrhunderts hat die Lyrik diverse Überformungen erhalten. Der Weg von Sappho zu Sophie findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht Sophie Reyer der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.

 

…will be continued…

 

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.