Noch höre ich
den Klang Deiner Stimme,
noch sehe ich Dein Gesicht.
Ein Sturm war plötzlich aufgekommen, kalt und windig war es, der Regen peitschte uns ins Gesicht, als man Dich, liebe Ceija, im Sarg zum offenen Grab trug. Pfarrer Helmut Schüller sprach die letzten Gebete, gab Dir den letzten Segen. Die Ruzsa sang Roma-Lieder, die Drei-Mann-Kapelle spielte Roma-Musik. Die Hände der den Sarg umstehenden Familienmitglieder ruhten auf dem Sarg, manche küßten ihn und somit Dich, zum letzten Mal. Ein Leben war beendet, ein guter Mensch war tot. Eine großartige Frau. „Die Ceija“, so nannte man Dich im Freundeskreis.
Was soll ich jetzt über Dich schreiben? Und wie? Das würde ich Dich jetzt gerne fragen. „Es steht sowieso alles im Internet“, würdest Du vielleicht sagen. Und hinzufügen: „Schreib was und wie du willst.“ Ich nehme nun Deine Bücher in die Hände, lese da und dort darin, schaue mir die Bilder von Dir an, sehe andere Bilder in mir: Erinnerungsbilder von unseren Begegnungen in all den vergangenen Jahren.
Du, Ceija, im Kreis der „Deinen“, bei der Roma-Demonstration in Wien, das Megaphon in den Händen, und wie Du zur Menge sprichst. Und wie wir in Deinem Wohnzimmer sitzen, mit dem Armando Capannolo, der mit nur 30 Jahren vor kurzem plötzlich in Rom verstorben ist; er hatte auf meine Anregung hin seine Diplomarbeit über Dich geschrieben. Du hast – obwohl ich ausdrücklich gesagt habe: „Bitte, Ceija, wir kommen Dich nur besuchen, koch ja nichts!“ – die schärfste Pasta asciutta meines Lebens gekocht. Dem Armando sind die Schweißperlen auf der Stirn gestanden, mir brannte schon der Magen, da sagtest Du: „Gell, a bißl schoaf is es vielleicht.“ Und wir lachten. Dann fotografierte ich Euch beide. Und später dann noch die Madonnenstatuen, darunter die Lourdes-Madonna mit dem Rosenkranz. Du warst ja sehr fromm. Sagtest einmal, Du hättest Deine/Eure Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen nicht nur den Alliierten, den Amerikanern, sondern auch der Muttergottes zu verdanken gehabt; und lebenslang danktest Du ihr, für Deine/Eure Rettung, für Dein Leben überhaupt. „Nein, ich bin nicht gläubig, Ceija“, sagte ich einmal. „Schade!“, sagtest Du nur darauf. Und fügtest dann doch noch hinzu: „Man muß im Leben an etwas glauben!“ Jetzt, da mir dieser Satz in den Sinn kommt, berührt mich die Erinnerung daran tief. Ich habe bei Deinem Begräbnis auch kein Gebet gesprochen. Habe mir statt dessen die Erinnerungsbilder wieder vor Augen geführt. Auch jenes, als Du zur Feier meines 60. Geburtstages ins Literaturhaus gekommen warst. Ein Foto gibt es da von uns. Wir lachen herzlich einander an und fröhlich in die Kamera. Da sehe ich uns jetzt auch auf dem Heimweg zu Dir in die Kaiserstraße, vom Literaturhaus weg, spätnachts, nach einer Roma-Literatur-Lesung, die ich im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Österreichischen P.E.N.-Clubs organisiert hatte. Dann sind wir noch in einem Café gesessen, haben Toast gegessen, etwas getrunken und lange miteinander geredet. Ich erinnere mich auch an meinen Antrag zu Deiner Aufnahme in den Österreichischen P.E.N.-Club und an die Abstimmung bei der Vorstandssitzung. Und an die mir zynisch erscheinende Wortmeldung eines Kollegen, der abschätzig sagte: „Aber die kann doch gar nicht rechtschreiben“. Und ich darauf: „Das vielleicht nicht, das ist ja auch wurscht, in Auschwitz hat sie das nicht gelernt.“ Und dann Schweigen; Abstimmung, Aufnahme. Ich erinnere mich, wie Du auf dem Grabhügel gesessen bist und eine Zigarette geraucht hast, knapp nachdem der Sarg mit Deinem Bruder Karl in die Grube hinabgelassen worden war. Ja, ja, der Karl, der im Teppichgeschäft in der Burggasse seine Bilder gemalt und dann auch ein Buch geschrieben hat und in den PEN aufgenommen wurde. Und Dein großer Bruder, der Mongo Stojka, der dann noch nach Euch sein berührendes Buch „Die papierenen Kinder“ verfaßt hat. Und Deine Schwester Katharina. Und der kleine Ossi, der im KZ gestorben ist, infiziert mit Typhusläusen. Und Du hast ihn, als er auf dem Leichenhaufen lag, noch besucht, hast ihm Dein Hemdchen als Leichentuch über den leblosen Körper gelegt. Mein Gott, Ceija, was sind das für Bilder, was muß das für Dich gewesen sein! Wie findet man denn dann nachher irgend wann einmal wieder in ein halbwegs normales Leben zurück?! Aber das warst eben Du! Unverwechselbar! Unbeugsam! Auch inmitten Deiner Familie, die Du so liebtest, sehe ich Dich, damals im Amerlinghaus, bei einem der Roma-Feste. Oder am Beginn unserer Bekanntschaft, unserer Freundschaft. Es muß in den Achtzigerjahren gewesen sein, beim ersten „Zigeunerball“, den ich besucht habe; er fand in einem Gasthaus statt, irgendwo draußen in der Brigittenau, als ich Dich und Deine Geschwister kennenlernen durfte, und Ihr mich eingeladen habt, an Eurem Tisch Platz zu nehmen. Lange sind wir beisammen gesessen, bis spät nach Mitternacht. Fröhlich waren wir alle. Du strahltest. Und Dein kleiner weißer Hund bellte ständig und wuselte herum.
Des öfteren habe ich Dich im Lauf der vielen Jahre fotografiert; auch damals. Ich schaue mir jetzt die Bilder auf meinem PC-Bildschirm an. Ein schönes Foto habe ich von Dir in einem der beiden Otto Wagner-Pavillons am Karlsplatz gemacht, als Du dort eine Ausstellung Deiner Bilder hattest. Ich war zur Vernissage mit meinem Freund gekommen, dem Roma-Dichter Ilija Jovanović, den wir auch vor nicht allzu langer Zeit begraben haben. Jung, fesch, fröhlich, lebendig, herzlich, großmütig, dem Leben zugewandt warst Du; und stolz darauf eine Romni zu sein. Ein Rom, ein Mensch! Deine Botschaft war: „Wir sind keine Minderheit, wir sind Menschen!“ Nur manchmal legte sich ein Schatten tiefer Trauer über Dich. Ausgedrückt durch den erschütternden Satz von Dir: „Auschwitz lebt, es ist in mir!“ Manchmal, vor allem im Sommer, sah man auf Deinem Arm die eingebrannte KZ-Nummer. Dein Lebenswerk: Du hast den NS-Völkermord an Deinem Volk, den Roma und Sinti, als eine der ersten, jedenfalls in Österreich, ans Licht, d.h. ins Bewußtsein geholt! Ein Tabubruch. Gottseidank! Man muß das Schweigen brechen, das Verschwiegene zur Sprache bringen. So vieles, zu vieles blieb und bleibt sowieso für immer im Dunkel, gleitet langsam aber unaufhaltsam, trotz der vielen Bücher, hinab ins Vergessen, ist dann nicht mehr präsent. Und die Neonazis marschieren und schreien „Sieg Heil!“, feiern „Führers Geburtstag“; und man findet nichts dabei. Und neue Feindbilder gibt es wieder: die Ausländer, die Asylanten, Menschen die nirgendwo dazugehören. Und ein Fußballfan sagt zum Gemeinderabbiner mitten in Wien „Du Saujud!“. Und daneben stehende Polizisten schreiten nicht ein. Sagt einer von ihnen nur: „Naja, das ist halt Fußball in Wien!“ Und der Rechtsstaat schaut tatenlos zu. Wie lebtest Du in einer solchen Welt? Wie lebtest du weiter nach all dem, was Du und Deine Großfamilie erlitten habt, von der nur Du, Deine Mutter und vier Deiner Geschwister den Holocaust überlebt haben; und dies ohne Haß und Rachedurst, ohne Verbitterung und Resignation?! Im Gegenteil: als Zeitzeugin, Mahnerin, Künstlerin, hast Du mit Deinen Büchern, mit Bildern, in Filmen, in Schulen bis zuletzt stets zur Mitmenschlichkeit, zum Menschsein aufgerufen. Das waren meine Gedanken bei Deinem Begräbnis, Ceija, das sind sie jetzt, da ich dies schreibe.
Vor mir liegen Deine Bücher. Das erste: „Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“, 1988 erschienen, mit dem Du über Nacht bekannt geworden bist. Und das so wichtig war durch das Aufzeigen des Schicksals der Roma und Sinti im Holocaust. Das war bis dahin weitgehend verschwiegen, nur wenigen bekannt. Dein Erzählen in diesem Buch berührte, ja erschütterte gerade deshalb so stark, weil Du das alles zwar erst relativ spät, als Erwachsene, Jahrzehnte nach der erlebten und durchlittenen Wirklichkeit, aber aus der Sicht des Kindes, das Du damals in Auschwitz-Birkenau, in Ravensbrück, in Bergen-Belsen warst, geschrieben hast. Unvergeßlich die Passage in dem Buch, da Du erzählst, wie eines Tages Eure Mutter per Post die Urne mit der Asche Eures ermordeten Vaters, ihres Mannes, der schon vor Euch nach Dachau abtransportiert worden war, zugestellt bekommen hat. Viele Jahrzehnte später las ich in einem Deiner blauen Hefte, in die Du alles, was Dir so einfiel, niedergeschrieben hast, diesen wunderbaren Satz aus einem Gedicht für Deinen Vater: „Weiße Chrysanthemen lege ich auf Dein Grab.“ Nein, keine poetologischen Erklärungen, keine Interpretationen braucht es da, im Gegenteil: die verbieten sich. Wie sanfter Schneefall in einer hellen Winternacht schwebt die Trauer zur Erde herab und hüllt auch uns mit ein.
Dann erscheint das zweite Buch: „Reisende auf dieser Welt“ (1992). Nachkriegszeit. Von der fast 200 Personen umfassenden Stojka Großfamilie habt nur Ihr mit Eurer Mutter überlebt; auch dank ihr und eurem unzerstörbaren Lebenswillen; und durch eine glückliche Fügung des Schicksals. Dein Volk, die Roma und Sinti, zu hunderttausenden ermordet, vergast. Herrenrasse. Untermenschen. Rassenwahn. Völkermord. Das alles überlebt. Und sich dann wiederfinden nach der Befreiung neuerlich am Rande der Gesellschaft, in einer neuen Fremde in der „Alten Heimat“, die es so wie vormals für Euch Reisende, für Euch Roma, nicht mehr gibt. Die neuerliche Ablehnung als „Zigeuner“ bekommt ihr zu spüren. Der „Zigeunererlaß“ (1948) des sozialistischen Innenministers Oskar Helmer gibt die gesellschaftspolitische Ausrichtung vor, sanktioniert geradezu den neu aufkommenden Unmut gegen das Hausierer- und Bettlervolk; auch gegen die aus den KZ. Man „verzeiht“ ihnen nicht, daß sie überlebt haben. Das Fremde unter uns wollen wir nicht, dachten damals noch immer viele, denken heute schon wieder viele, viel zu viele; plakatieren es, sprechen es aus mit Parolen und Hetztiraden. Und schon wieder fällt in diesem Zusammenhang das Wort „Heimat“, wird dieses Wort und wird die Heimat mißbraucht.
auschwitz ist mein mantel
du hast angst vor der finsternis?
ich sage dir, wo der weg menschenleer ist,
brauchst du dich nicht zu fürchten.
ich habe keine angst.
meine angst ist in auschwitz geblieben
und in den lagern.
auschwitz ist mein mantel,
bergen-belsen mein kleid
und ravensbrück mein unterhemd.
wovor soll ich mich fürchten?
Ceija Stojka
Später trittst Du nicht nur mit Deinen Büchern hervor, sondern auch als Person; als Zeitzeugin. Du machst Lesungen, gehst in Schulen, sprichst mit den jungen Menschen, erzählst Ihnen von Deiner damaligen Kinderwelt in den KZ, zeigst in Ausstellungen Deine Bilder, welche die unbegreifbare schreckliche Grausamkeit der entmenschten KZ-Schergen, der SS-Wachen, der Mörder und Mitläufer festhält; Gedichte, Texte, Bilder, in und mit denen Du Dein Schicksal aufarbeitest, aber auch Zeugnis ablegst von dem, was man Dir und Deinem Volk angetan hat. Und mit denen Du aufrufst zum „Nie wieder!“ und „Niemals vergessen!“
Es wird auch über Dich berichtet. In Zeitungen, Zeitschriften, mit Dokumentarfilmen, im Rundfunk. Ein wunderbarer Film von Karin Berger mit dem poetischen Titel : „Unter den Brettern hellgrünes Gras“ (2005). Die Wirklichkeit ist wieder einmal anders als die Poesie. Dieses grüne Gras unter den Brettern hat Dir Deine Mutter gezeigt, und ihr habt dieses grüne Gras gegessen, es hat Euch geholfen zu überleben. 2003 erschien Dein Buch „Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht“ im Verlag der Wenigkeiten des Gerald Kurdoglu Nitsche, den Du „Bruder“ nanntest (er Dich „Schwester“). Der als einer der ersten sich intensiv mit der „Literatur der Wenigkeiten“ befaßte und das wunderbare Buch „Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“ im Haymon Verlag herausbrachte.
Spät aber doch kamen dann endlich auch die „wohlverdienten Ehrungen“, wie das die Dich-Ehrenden manchmal verschämt und verlegen nannten. Das waren unter anderen das „Goldene Verdienstkreuz des Landes Wien“ (2001), die „Humanitätsmedaille der Stadt Linz“ (2004), das „Goldene Verdienstzeichen des Landes Oberösterreich“ (2005), die Ernennung zur „Professorin“ durch das Österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (2009). Ich saß bei der Feier in manchen Augenblicken gerührt hinten im Saal und gratulierte Dir anschließend. Du stelltest mir die Frau Brainin (die ich mit ihrem Mann schon kannte) als Deine Freundin und damaligen KZ-Mithäftling vor. Ein berührender Augenblick. Geschichte.
Liebe Ceija, das alles ging mir in Bildern der Erinnerung durch mein Gedächtnis, als ich während der Begräbniszeremonie und später am Grab unter den vielen Menschen stand, die Dich alle schätzen und lieben. Das alles war und ist so präsent, weil es jederzeit in mir abrufbar ist. Worte und Bilder. Auch die Erinnerung an die schönen Blumenbilder, die Du – vielleicht als Gegenwehr zu den Bilden des Grauens – gemalt hast, sind mir im Kopf, und ich sehe sie als Fotografien vor mir auf meinem PC-Bildschirm. Und ich höre auch Dein Lachen. Und ich höre Deine Stimme, Deine Sprechmelodie, Deinen wunderschönen burgenländisch-wienerisch-österreichischen Dialekt. Deine einfache Sprache, die ich liebe. Vieles hat uns verbunden. Und auch dies, daß diese schreckliche Vergangenheit, die Nazizeit, der Krieg, der Holocaust, zu unserem Leben gehört, weil sie ein Teil in unserer Lebenszeit (gewesen) ist.
Liebe Ceija, das alles wollte ich Dir noch sagen, weil man dies ja erst denkt, wenn man es dem Menschen, dem man das alles sagen möchte, nicht mehr sagen kann; weil es ihn nicht mehr gibt, weil er tot ist. Eigentlich absurd, aber eben ein Nachruf. Ceija, Du weißt es, aber ich sage es Dir trotzdem: So viele, alle die Menschen, für die eine Begegnung, eine Freundschaft mit Dir ein Geschenk war, weil Du Dich auf uns eingelassen hast, mit Deiner allumfassenden Liebe, werden Dich, solange sie leben, nicht vergessen. Dein Zeugnis-Geben, Dein Mahnen, und alles was Du damit geleistet und erreicht hast, wird unzerstörbar bleiben; ein Gegengewicht zur Grauenhaftigkeit in der Welt von damals und heute. Ceija, ich schicke Dir alle diese Gedanken und Gefühle von mir irgendwohin nach. Vielleicht erreichen sie Dich dort, wo Du glaubtest, daß Du einmal ganz sicher hinkommen wirst: in den Himmel. Ceija, ich danke Dir! „Weiße Chrysanthemen lege ich auf Dein Grab“.
***
Wir leben im Verborgenen – Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Von Ceija Stojka. Picus Verlag, Wien, 1988; vierte Auflage, Wien, 2003.
Ceija Stojka: Reisende auf dieser Welt. – Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, herausgegeben von Karin Berger, Picus Verlag, Wien 1992. Mit einem Vorwort von Karin Berger.
Ceija Stojka: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht, Gedichte in Romanes und Deutsch, mit Bildern, Lyrik der Wenigkeiten, EYE Literaturverlag, Gerald Kurdoglu Nitsche, Landeck/Tirol 2003. Mit einem Essay von Beate Eder-Jordan und einem Literaturverzeichnis.
Ceija Stojka: Träume ich, daß ich lebe? – Befreit aus Bergen-Belsen, herausgegeben von Karin Berger, Picus Verlag, Wien 2005.
Ceija Stojka: Auschwitz ist mein Mantel – Gedichte, Lebensgeschichte-Erzählung sowie Bilder von Ceija Stojka, herausgegeben von Christa Stippinger, edition exil, Wien 2008.
Filme:
Ceija Stoijka: Das Porträt einer Romni, 2001. Regie: Karin Berger.
Unter den Brettern hellgrünes Gras, 2005. Regie: Karin Berger