Wasserschleier

 

Sarah versucht, durch den Wasserschleier zu sehen, ob Kathrins Fenster beleuchtet sind. Sie sieht nichts. Alles ertrinkt im Regen.

Il pleut dans mon cœur, comme il pleut sur la ville, quelle est cette langueur, qui pénètre mon cœur… Ich sollte Verlaine wieder lesen, denkt sie. Oder Bacovia. De atîtea nopţi aud plouînd, aud materia plîngînd

Ebbe und Flut bestimmen den Schall romanischer Sprachen. Zuweilen durchfährt er Sarahs Körper mit erregt atmender Sinnlichkeit, füllt ihre Seele mit erhabener Sehnsucht. Seit Jahren hat Sarah diesen Wunsch nicht mehr so arg verspürt, sich vom Klang des Wortlauts über die Traurigkeit seines Inhaltes hinweg trösten zu lassen. Sehnt sie sich nach dem Pathos, das in der zweckfreien Großzügigkeit melodischer Laute nachzuspüren ist?

Sie lehnt ihre Stirn an die kalte Fensterscheibe und sucht mit dem Blick nach klaren Farbunterschieden, nach geprägten Trennlinien. Vielleicht zwischen den Ästen und den verbliebenen Blättern?

Schlammgraue Flächen zwischen schlammgrauen Linien. Das graue Netz des Wassers über dem grauen Schimmer des Hintergrunds. In der Kontrastlosigkeit gibt es keine Details. Nur den Hauptfarbton, das Hauptwort. Sätze ohne Eigenschaftswörter. In der Kontrastlosigkeit gibt es keine Eigenheiten. Keine Eigenständigkeit. Keine Rebellion. Es gibt auch keine Nebensächlichkeiten. Sie gehen in das Gesamte über, sprengen es nicht. Sie verselbständigen sich nicht. Bleiben anonym. Sterben anonym.

Wenn das Bild schattenlos ist, ist sein Pathos verblasst. Was übrig bleibt, ist die Eintönigkeit des Unvermeidlichen. Die Tyrannei des Unbedingten.

Die alle einzelnen Sonderheiten verwischende Abstraktion.

Kant ist nachvollziehbar auf diesem Breitengrad, denkt Sarah.

Ein Regengestöber rasselt plötzlich durch die kahlen Baumkronen. Wild. Entfesselt. Die Äste winden sich und ächzen. Sie krachen und schütteln die wenigen Blätter ab.

Ein Chorus entblößter, knirschender Erinnyen.

Düstere Leidenschaft.

Ein Blatt löst sich von einem brechenden Ast und wird von den schiefen Regenpeitschen an die Fensterscheibe geklatscht. Es zittert dort vor Sarahs Augen. Die losen Zipfel des Blattes flattern. Es erinnert an einen agonisierenden Nachtfalter. Das natürliche Pathos, da draußen.

– „Die Düsterheit hat nicht weniger Pathos als die Sonnigkeit. Sie ist nicht weniger signifikant“, flüstert Sarah. „Du solltest es am besten wissen. Du trägst beide in dir. Ständig. Endgültig…“

Es fließt Blei über die Welt, sie verschlammt darunter.

Sogar die Erinnyen verkrüppeln.

Sarah reibt sich die Augen und sieht auf die Uhr. Zehn nach elf und sie hat noch nichts getan. Sie hat noch so viel zu tun.

 

 

 * * *

Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.

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