lavant a lettre

Weit mehr als eine ungefickte Alleinstehende.

Thomas Kling

Laut Lexika fragt die Rezeptionsästhetik nach der gedanklichen und emotionalen Wahrnehmung künstlerischer Werke und inwieweit sie bereits im Gegenstand angelegt ist bzw. erst im Prozess der Rezeption entsteht. Angesichts der Schwundstufen von Literaturkritik, die bei der Diskussion derzeit beklagt werden, zeigt sich: Der viel beklagte Bedeutungsverlust von Literaturkritik ist nicht Ergebnis des Medienwandels, er ist selbst verschuldet. Ein aktuelles Beispiel: In der online-Ausgabe der Zeit stellt die Leiterin des Literaturhauses Köln, Insa Wilke, die neue Ausgabe von Christine Lavants Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte vor. Die nebenberufliche Literaturkritikerin widerspricht in diesem Artikel zwei Rezensentinnen, die sich ebenfalls kürzlich mit der 1973 verstorbenen österreichischen Lyrikerin beschäftigt haben:

„Marlene Streeruwitz beschrieb unlängst in einer stupenden Analyse des Gedichts ‚Wo treibt mein Elend sich herum?‘ die Traditionen sadistischer Erziehung, in denen Lavants Sprache der Ausgrenzung sich bewege, und das am katholischen Gebet geschulte ‚Fühldenken‘, durch das ihr Ich die Reflexion ersetze und also suggeriere: kein Ausweg, nirgends.

Die aus Zweibrücken stammende Autorin Monika Rinck bestätigt diese Lesart im Prinzip, wenn sie in einem Essay in der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau in einer Nebenbemerkung schreibt: ‚Was aber, wenn die Lavant sich aufmacht, gegen die Entsagung anzugehen, und das Gedicht am Ende doch wieder nur Sublimierung ist?‘ Das Gedicht wird also zur Ersatzhandlung, entwertet wird damit sowohl das Gedicht, als auch der Akt des Widerstands, der die Grenzen des Gedichts ja nicht überschreitet.“

Ich habe eine Welt und diese Welt brennt! Und wo etwas brennt, da entsteht Kraft. Und diese Kraft reißt mit!

Christine Lavant

Christine Lavant schrieb Gedichte, die in ihrer sprachlichen Eigenwilligkeit und existentiellen Zerrissenheit für Thomas Bernhard zu den „Höhepunkten der deutschen Lyrik“ zählen. Er beschrieb ihre Lyrik als „das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen“. Lavant selbst sah ihre Kunst als „verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar“ und war sich der poetischen Kraft ihrer Gedichte dennoch gewiss:

Wenn ich dichtete, risse ich jede Stelle Eures Daseins unter Euren Füßen weg und stellte es als etwas noch nie von Euch Wahrgenommenes in Euer innerstes Gesicht.

Der erste Band der vierbändigen Werkausgabe versammelt alle zu Lebzeiten publizierten Gedichte in einer komplett neu edierten Fassung. Er enthält neben den drei Gedichtbänden, die Lavants Ruhm begründet haben („Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“, „Der Pfauenschrei“), auch das Frühwerk „Die unvollendete Liebe“, Lavants späte, in Liebhaberausgaben und Sammelbänden veröffentlichte Lyrik („Sonnenvogel“, „Wirf ab den Lehm“, »Hälfte des Herzens“) sowie zahlreiche verstreute Gedichte, die erstmals wieder zugänglich gemacht werden.

Einen weiteren Einblick in die Welt Christine Lavants bekommt man in der Frankfurter Anthologie, in der Angelika Overath Lavants Gedicht „Wär ich einer Deiner Augenäpfel“ in einer sinnfälligen Interpretation vorstellt:

„Wär ich einer Deiner Augenäpfel
oder eines Deiner Wimpernhaare,
niemals gäbe ich Dir Ärgernisse,

…“

 

 

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Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte von Christine Lavant. Werke in vier Bänden (Hg. von Klaus Amann und Doris Moser. Im Auftrag des Robert-Musil-Instituts der Universität Klagenfurt und der Hans Schmid Privatstiftung); Bd. 01

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.