Auf dem Buchumschlag sind vier weltweit bekannte russische Schriftsteller im Umkreis der Dichterin Marina Zwetajewa hinter einer reich gedeckten Tafel abgebildet: Nikolaj Gogol, Joseph Brodsky, Anton Tschechow und Lew Tolstoj. Ihre Blicke aber richten sich nicht auf das vor ihnen ausgebreitete Schwarzbrot, eine Schale, bedeckt mit exotisch zubereiteten Fischen, die landesübliche Wodkaflasche und die blumige Teetasse. Sie sind – mit Ausnahme des versonnen lächelnden Tschechow – nachdenklich auf einen Leser gerichtet, der so gerne an diesem Tisch sitzen würde, um all die Kostbarkeiten auszuprobieren, die Tatjana Kuschtewskaja ihnen versprochen hat: neue kulinarische Streifzüge …, ach ja, sie hat bereits mit „Die Poesie der russischen Küche“ aus dem Jahr 2003 eindrücklich bewiesen, wie vertraut sie mit den Essgewohnheiten ihrer Landsleute ist. Dieses Mal signalisiert sie bereits im Vorwort, dass sie, ausgehend von zahlreichen Passagen in Romanen und Erzählungen ihrer verehrten Schriftsteller, den kulinarischen Freuden „auf den Grund“ gehen wolle. Das heißt: nicht nur die in den literarischen Texten so sinnlich beschriebenen Speisen und Getränke zu einem Buch über und für Gourmets zusammenzutragen, sondern die Lieblingsrezepte der russischen Genies im Zusammenhang mit den Festmahlen, bei denen sie im Mittelpunkt standen, mit authentischer Hingabe aufzulisten. Wesentliche Anregungen für dieses Vorhaben hat ihr im Jahr 2000 verstorbener Professor für Literaturgeschichte an der Moskauer Filmhochschule, William Pochljobkin, geliefert. Ihm hat sie dieses so kenntnisreiche und eindrucksvolle Buch gewidmet. Es ist sowohl eine kulinarische Pilgerreise zu den ehemaligen Wohnstätten berühmter Schriftsteller und Dichter wie Alexander Puschkin in Boldino oder zu Lew Tolstojs Landgut Jasnaja Poljana als auch eine genaue Beschreibung der Leibspeisen, die den literarischen Genies besonders mundeten. Das alles garniert die Autorin mit Anekdoten über die Vorlieben der Gourmets, die in ihren Romanen so manche köstliche Speise zum Gegenstand ausschweifender Festgelage machten, wie zum Beispiel Russlands bekanntester Fabeldichter Iwan Krylow (1769-1844), dessen Lieblingsspeise Spanferkel mit Buchweizengrütze war, aber bei weitem nicht nur. Lesen Sie nach, wie aus dem Gourmet im Laufe eines Empfangs im Hause von Alexander Turgenjew ein Gourmant wurde. Oder der Ukrainer Nikolaj Gogol, in dessen weltberühmten Roman „Die toten Seelen“ der alte Geizhals Pljuschkin sich eine Zwieback-Pirogge servieren lässt, deren Rezept Tatjana Kuschtewskaja ebenso aufgeschrieben hat wie die Bestandteile des einst berühmten Rum-Punsches mit der Bezeichnung „Gogol-Mogol“.
Doch die Autorin schwelgt nicht nur bei der Beschreibung von erlesenen Speisen und feurigen Getränken in den russischen Oberschicht-Milieus, sie begibt sich auch mit Fjodor Dostojewskij in die düsteren Wohnungen der Sankt-Petersburger Unterschichten, wo es nur die einfache Schtschi-Suppe, Saikas zu Tee oder Piroggen gab. Doch der Autor selbst bevorzugte gebratenen Fisch, Rinderschnitzel, Pastila oder Apfelzephir mit Schlagsahne oder Baiser zum Nachtisch. Wer im Mittelteil des literarischen Koch- und Backbuchs angekommen ist, der wird einen kaum merklichen Unterschied in den Lieblingsspeisen der Schriftsteller verspüren. Die nach 1917 Emigrierten, wie Maxim Gorkij (zwischen 1921 und 1927), Iwan Bunin (nach 1920), Vladimir Nabokov (1917) und viele andere genossen ihre kulinarischen Freiheiten und bevorzugten, wenn wir den beschriebenen Speiseplänen trauen, ihre köstlichen, ach so kalorienreichen russischen Gerichte, die natürlich auch tatarischen, usbekischen oder ukrainischen Ursprungs waren. Andere hingegen, wie der 1899 in Woronesch geborene Andrej Platonow, der im „Paradies der Werktätigen“ blieb, dessen entbehrungsreiches Leben die Autorin zum Anlass nimmt, über die Hungersnöte und den Niedergang der russischen Küche nach 1917 zu schreiben, sehnten sich umso mehr nach solchen Speisen wie Borschtsch mit Sauerkraut und Rindfleisch oder Kalbskopf mit Backpflaumensauce – Köstlichkeiten, die noch in den 50er oder 60er Jahren kaum in russischen Küchen aus Mangel an Zutaten landeten . Ein anderer hingegen, der regimetreue Michail Scholochow, prasste in seiner Kosaken-Staniza Wjoschenskaja zu Beginn der dreißiger Jahre, als Millionen ukrainischer Bauern ringsherum verhungerten, weil der Kremlberg-Tyrann Stalin die Getreidetransporte mit Militärgewalt stoppen ließ.
In vielen Passagen des spannend und lebendig erzählten literarischen Kochbuchs spürt der Leser die Kontraste zwischen den kulinarischen Wunschträumen und der Küchen-Realität der Sowjetära, ohne sie benennen zu können. Ein Beispiel dazu. In dem schmalen Kapitel über die Essgewohnheiten des Nobelpreisträgers und Dissident Alexander Solschenitzyn, der lange Jahre im Straflager- System Archipel Gulag verbrachte, beginnt die Autorin mit einem Erlebnis, was sie als heimliche Leserin des „Archipel Gulag“ hat. Dann spürt Tatjana Kuschtewskaja den Essgewohnheiten von Alexander Issajewitsch in dessen letzten dreizehn Lebensjahren nach, wobei sie eine Reihe von nachahmenswerten Rezepten (wie usbekischer Plow mit Hammelfleisch) erwähnt, aber den Kontrast zu den Hungerrationen des einstigen Anklägers des Sowjetsystems im Lager nicht erwähnt. Doch ist ein solcher Anspruch in einem kulinarischen Buch über russische literarische Genies wünschenswert? Schließlich geht es nicht nur um Genies russischer Herkunft, sondern wie die wunderbar einfühlsame Studie über den kirgisischen Romancier Tschingis Aitmatow beweist, auch um die gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen. „Dank Aitmatow verliebte ich mich in die kirgisischen Mythen und Legenden, später in die kirgisische Kultur und in die kirgisische Küche“, sagt Tatjana mit dem Blick auf das Jahrhundertwerk von Aitmatow „Ein Tag länger als das Leben“, in dem die Mankurts eine schreckliche Symbolisierung für den Verlust von Erinnerung darstellen. Ein weiteres Beispiel betrifft das Schicksal von Joseph Brodsky, der 1972 Russland verlassen musste, weil er in dem repressiven Sowjetsystem zu ersticken drohte, und seine Sehnsucht nach der russischen Küche in den USA mit köstlichen Speisen stillte, die alle mit Rüben zubereitet werden. Tatjana hat sie einst während eines Aufenthalts in der Nähe der nordrussischen Stadt Wologda ausprobiert, als sie das Drehbuch für die Fernsehdokumentation „Operation Jug“ schrieb.
Zwei geniale Jungsporne der russischen Gegenwartsliteratur bilden den krönenden Schluss: Wladimir Sorokin (Jg. 1955) und Viktor Pelewin (Jg. 1962). In ihren Essgewohnheiten könnten sie nicht unterschiedlicher sein. Der eine ein Gourmet, der auch schon mal bei seinen häufigen Deutschland-Besuchen in der Delikatessenabteilung des KaDeWe gesehen wurde, der andere offensichtlich ein Genießer von japanischen Tofu-Gerichten und exotischen Salaten, munkelt man. Auch die Autorin hatte noch nicht das Vergnügen, gemeinsam mit Pelewin die japanische Delikatesse Fugu in einem Spezialitäten-Restaurant auszuprobieren. Und womit erfreut sich Tatjana? Als Kennerin des sibirischen Raumes bevorzugt sie Tuwinischen Rinderschmorbraten und Braunbärfleisch auf sibirische Art. Na denn mal: Prijatnogo appetita!
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Zu Tisch bei Genies von Tatjana Kuschtewskaja. Neue kulinarische Streifzüge durch die russische Literatur. Aus dem Russischen von Steffi Lunau und Ilse Tschörtner. Mit Illustrationen von Janina Kuschtewskaja. Düsseldorf (Grupello) 2014