O Herr
wie soll ich sprechen zu dir –
Deine gekreuzigte Gestalt
winzig am andern Ende der Kathedrale
wie eine Mücke die in meinem Weinglas zappelt –
Als sähe ich dich durch ein umgedrehtes Fernrohr –
Während du mich siehst
in monumentaler Vergrößerung:
jede Pore auf meiner regenfeuchten Stirn
ein schwarzer Abgrund
jedes Äderchen in meinem Augapfel
ein tosender Strom von Blut
***
Aus: Nachtgeschichte für die Teetasse, Gedichte von Ludwig Steinherr, Lyrikedition 2000, 2014. Buchpräsentation heute in der Juristischen Bibliothek münchen, ab 19.00 Uhr.
In diesem Buch geht Ludwig Steinherr konsequent den Weg der „Wiederverzauberung der Welt, ja der Wiederbelebung des Mythos“ fortsetzt, den der Philosoph Vittorio Hösle in seinen letzten Büchern entdeckte. Auch die alltäglichsten Dinge beginnen in dieser pittura metafisica zu leuchten und zu gleißen – hinter jeder Ecke erwarten uns helle und dunkle Wunder.