Der Titel Auswertung der Flugdaten deutet zunächst auf ganz andres Terrain als ›Untertage‹. Hier hats offenbar den Totalabsturz gegeben, der Poetpilot kriegt die Black Box noch einmal mit beiden Händen zu fassen, jetzt gehts mit letzter Leidenschaft an die Auswertung der Flugdaten. Ist Thomas Kling der reinkarnierte Ikarus, der den Sturz überlebt? Es sieht ganz danach aus : Auf dem Buchumschlag als auf dem Sockel stehnde, in die Ferne blickende Skulptur erstarrt – verbildlicht er mit dieser Pos sein Gedicht mailand, ambrosianische litanei 2, das ich immer wieder mit stummer Anteilnahm les? –, seh ich den Dichter Thomas Kling hoch vorm zerfallnen, efeubewachsnen Knusperhäuschen. Auf nichts kommt es an als darauf, Atem zu haben, atmen zu können, zu wissen und am Leben zu bleiben. (William Faulkner, Absalom, Absalom) Kapitel 1 : Vorhöll mit endlosen weißen Gängen, schwarz offengelegten Innereien – Dichter, Patient, Hauer, Steiger (außer sich, rasend, wild). Kapitel 2 : Es plappert die Mühle, mahlt, malt, spricht. Alliterative, (binnenreimende) ma(h)lende Bildgedichte: das licht steht staubig – / stäubchen-strömung in der tür. // die sonne, feuermühle/ die euch gemahlen hat, geht scharf. // so steht das licht – / steht staubig in der tür« – – – Was bleibt, ist ein vielsagender Vers, der dann doch zu wenig sagt. Kapitel 3 : Die Anachoretische Landschaft … Um nicht vor lebensscham verrecken / Zu müssen – so nehm’ ich farbe an. Kapitel 4 : Zum Gemäldegedicht : Es geht also darum, das Bildkunstwerk (»Gemähld«) zum Sprechen zu bringen, besser gesagt, ihm eine zweite – eine dichterische – Sprache zur Seite zu stellen. Kapitel 5 : Die Himmelsscheibe von Nebra : … schauen wir / zurück. Kapitel 6 : Vergil. Aeneis – Triggerpunkte : … stimmband in auflösung begriffen. – – – Hubert Winkels über Auswertung der Flugdaten : Der neue Kling-Band beginnt also mit einer fulminanten Reihe von K-Gedichten: K wie Krankenhaus und Krieg, der in ihm herrscht – wie Körper und Konkretion, die ihn zum Datum macht, wie Kälte und Kunst, die jedes Wehleid einfrieren in Wort und Bild.
Thomas Kling stirbt am 1. April 2005, dem Tag, an dem ich, beseelt und überwältigt von der Auswertung der Flugdaten, mehr denn je der Überzeugung bin, er hätt den Lungenkrebs, vorläufig wenigstens, einigermaßen gebändigt. Als die Todesanzeigen, die ein Bekannter für mich ausgeschnitten hat, aus dem Briefumschlag fallen, seh ichs, endgültig, schwarz auf weiß : Der 5. Juni 1957 in Bingen am Rhein geborene Thomas Kling ist tot.
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Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.