Schädelmagie • Revisited

Der Schriftsteller, der nicht zerstreuen, sondern wirken will, muss den Mut aufbringen, auch gegen den Leser zu schreiben. Stil ist kein Schlafpulver, sondern ein Explosivstoff.

Günter Eich

Bereits sein Name war ein Auftrag: Kling! Die Bedeutungsebene der Sprache versuchte dieser Poet zeitlebens zum Klingen zu bringen. Von ihm stammt die Selbstaussage, ihn interessiere jede “Land- oder Stadtschaft als eine riesen summende Insektengesellschaft”, aus der er in seinen Gedichten einzelne Stimmen “herauspräparieren” müsse. Kling gehörte zu den raren Sängerdichtern, in deren zu Performances erweiterten Lesungen das Ungezügelte, Schamanische zwischen ‚Brennstabm und Rauchmelder‘ scharf aufblitzte. Er bezeichnte das, was er „unter Lesung verstand, schon früh als Sprachinstallation; auf einem copyzierten flyer taucht das Wort 1986 in Vaasa/Westfinnland auf, wo ich eine Zeitlang lebte und ein paar Auftritte hatte; Sprachinstallation, gleich dreisprachig, Schwedisch und Finnisch kamen dazu.“ Dieser Autor definierte die „dichterische Sprache als Wahrnehmungsinstrument“. Dies läßt sich gut auf der kürzlich erschienenen CD-Box Die gebrannte Performance nachvollziehen.

Der Sound von  “Electri_City”

Was sich in der Postmoderne zwischen Berlin und Leipzig als Lyrik-Szene formiert, hat seinen Vorläufer im Rheinland. Im Akademieumfeld trafen sich Thomas Kling, Marcel Beyer und Norbert Hummelt, die drei Musketiere der Lyrikszene (als D’Artagnan würde ich A.J. Weigoni in dieser Szene verorten). Die Lehrjahre im Düsseldorfer Ratinger Hof, wo Punk und New Wave auf Joseph Beuys trafen, führten Thomas Kling zu einer Verarbeitung der ganzen sprachbewussten Avantgarde in der deutschen Literatur, von Oswald von Wolkenstein über George, Trakl, DADA bis zur Wiener Gruppe. Bemerkenswert aus dieser Zeit vor allem die Zusammenarbeit mit dem Jazzschlagzeuger Frank Köllges. Daraus entwickelte sich ein unverkennbarer Ton, eine Lyrik, die manchmal hermetisch, manchmal überfallartig direkt sich ans Sprachzentrum der Leser und Hörer richtet, Lyrik als – in seinen Worten – „schädelmagie“.

Seine Texte waren graphischer Gesang und Wahrnehmungsaggregat, gemixt von einem orphischen DJ.

Aris Fioretos

Ich finde es begrüßenswert, daß der Reclam Verlag Thomas Klings Oeuvre in den Kanon seiner „Universalbibliothek“ aufgenommen hat und mit Norbert Hummelts Auswahl einen schnellen Zugriff auf diese „Sprachdroge“ ermöglicht. In diesem Band läßt sich die dichterische Entwicklung Klings ablesen, es finden sich die von der frühen, laut und offensiv daher kommenden „realistischen Ästhetik“ regional geprägter Gedichte bis zum historisch und mythisch geweiteten Spätwerk. Waren Klings Texte zu Anfang in ihrer Kompositionsform durch performative Elemente bestimmt, der Wortklang und -melodie spielen eine wichtige Rolle, so lassen sie in diesem Band Entwicklungslineien nachvollziehen. Kling bringt in seinem Werk nicht nur auf vielfältige Weise Historisches zur Darstellung, er reflektierte stets auch die Bedingungen unter denen Geschichte vermittelt wird. In seinem archäologischen Spätwerk avanciert der Dichter als „Memorizer“ schließlich selbst zum kultischen Medium des Totengedenkens. Klings spracharchäologische Gedichte zeigen ihre volle Komplexität erst in den sorgfältig gearbeiteten Druckfassungen. Eine ideale „Einstiegsdroge“ und „Kondensat“ von Bestand.

 

 

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Schädelmagie, ausgewählte Gedichte von Thomas Kling, Reclam Verlag, Stuttgart

Die gebrannte Performance, Lesungen und Gespräche von Thomas Kling. Hrsg. von Ulrike Janssen und Norbert Wehr. 4 CDs und ein Begleitbuch. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2015. 250 Minuten, 24,90 Euro.