Literarischer Widerstand gegen die Umstände

 

Der in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Sächsischen Landesbeauftragten für Stasiunterlagen unter der Federführung des polnischen Germanisten Ernest Kuczynski entstandene Sammelband zeichnet sich durch ein besonderes Engagement für den am 9. Mai 1999 im Alter von 48 Jahren an Leukämie verstorbenen Lyriker, Erzähler und Publizisten Jürgen Fuchs aus. Das Vorwort des Herausgebers hebt diesen Anspruch deutlich hervor:

„Mit seinem frühen Tod hat das wiedervereinigte Deutschland nicht nur einen talentierten Schriftsteller und engagierten Menschenrechtler, sondern einen authentischen und kritischen Bürger verloren, dem Prinzipien wie Aufrichtigkeit, Widerstand und Erinnerung viel bedeuteten.“

Gleichzeitig betont Kuczyński, dass Fuchs, obwohl er in erster Linie „dunkle und unbekannte Facetten der DDR – den Kasernenhof, das Gefängnis, die Folter“ literarisch aufgearbeitet habe, vor allem als Oppositioneller und Dissident“ bis in die jüngste Gegenwart wahrgenommen werde. Diese ungleichgewichtige Rezeption war für den Herausgeber der Anlass, Leben und Werk von Jürgen Fuchs, der im Alter von 27 Jahren zum Staatsfeind der DDR erklärt wurde und von West-Berlin aus agierte, in dem breiten Spektrum von Künstler, Publizist, Sozialarbeiter, Psychologe und Menschenrechtler aufzuarbeiten. Ergebnis seiner Bemühungen ist eine aus über 30 Beiträgen bestehende Publikation, die aus drei großen Sachkapiteln besteht. 1. Jürgen Fuchs in memoriam. 2. Engagierte Literatur der Erinnerung. 3. Biografische Stationen zwischen Ost und West. Eingeleitet durch den Beitrag der Publizistin und Bürgerrechtlerin Doris Liebermann, die unter der Überschrift ‚Landschaften der Lüge‘ ein Gespräch mit Jürgen Fuchs dokumentiert, gewinnt der Sammelband nicht zuletzt aufgrund dieser Gliederung in mehrfacher Hinsicht an Argumentationskraft. Im ersten Kapitel umreißen die polnischen Dichter und Dissidenten Adam Zagajewski und Ryszard Krynicki, die Publizistin Helga Hirsch, der Bürgerrechtler Roland Jahn, die Weggefährten Lutz Rathenow, Wolfgang Templin und Hans-Joachim Schädlich zusammen mit dem tschechischen Übersetzer Josef Rauvolf, dem Mitgründer des „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“, Karl Wilhelm Fricke, Redakteur beim Deutschlandfunk und ehemaliger Häftling der Staatssicherheit, Esther Dischereit, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin, und Wolf Biermann ein umfassendes Profil eines außergewöhnlich kompromisslosen und Energie geladenen Schriftstellers und Bürgerrechtlers, dessen eigentliche Bedeutung für die deutsche Nachkriegsgeschichte bislang nur in Ansätzen erkennbar wird.

Umso wichtiger ist deshalb die Herausbildung einer breiten und zugleich tiefenschichtigen Rezeption des Werkes von Jürgen Fuchs, wie sie Ernest Kuczyński zu Beginn des zweiten Kapitels unter der Überschrift ‚Literarischer Widerstand gegen die Umstände vornimmt. Er konstatiert, dass Fuchs „15 Jahre nach seinem Tod in der bundesdeutschen Öffentlichkeit einerseits verbannt und verkannt zu sein scheint, andererseits verehrt und vermisst wird.“ Er fungiere meist als Metapher für „Einmischung“, “Ehrlichkeit“, „Widerstand“ und „Erinnerung“ und sein Name werde überwiegend nur noch bei Jubiläen und Gedenktagen benutzt. Es sei nun an der Zeit, sich eines schriftstellerischen und lyrischen Werkes anzunehmen, das im Jahr 2012 nur noch vereinzelt im Buchhandel, wie die „Vernehmungsprotokolle“ (Jaron Verlag 2009), vorrätig war. Doch zuvor müssten die Stationen seiner künstlerischen Entwicklung umfassender untersucht werden. Eine Aufgabe, der sich die bundesdeutsche Literaturwissenschaft mit anderen Fragestellungen stellen sollte. Bislang, so Kuczynski, sei die westliche Literaturkritik nur zu einseitigen Urteilen gelangt, wie z.B. dass der Autor nur Vertreter einer bestimmten Betroffenheitsliteratur sei, die spezifische ästhetische Wertigkeit seiner Texte aber kaum berücksichtigt habe. Deshalb müssten die Prosawerke „Fassonschnitt“ und „Das Ende der Feigheit“ mit dem Geist staatssozialistischer Kasernenmentalität auseinandersetzen, so wie die multifunktionale Dokumentation „Magdalena“ sich nicht nur mit den Zersetzungsmethoden der DDR-Geheimpolizei beschäftige, sondern sie einer umfassenden ästhetischen Untersuchung unterzogen werden müsse. Dazu gehörten u.a. auch die Biografie des Autors und ein komparatistischer Forschungsansatz, der die besonderen existentiellen und politischen Bedingungen literarischen Schaffens in kommunistischen Diktaturen und deren Umbruchsituationen zwischen 1970 und 2000 berücksichtigen müsse.

Im Kapitel 2 sind vor allem Beiträge hervorzuheben, in denen solche innovativen Untersuchungsansätze erkennbar sind. Herta Müllers Beitrag „Der Blick der kleinen Bahnstationen“ setzt sich mit der psychologisch geschulten Wahrnehmung der Kasernenrealität aus dem Blickwinkel des Erzählers auseinander, der in der Person Jürgen Fuchs „die Realitätstreue sprachlich durchhält und… das Gewöhnliche zur Sensation (macht)“. (S. 150) Seine emotionale Dokumentierung der kruden Realität als staatliche Maßnahme sei in die gefährdete eigene Lebenszeit eingebettet. Fuchs setze die äußeren Schauplätze innen ein, d.h. alle Objekte der äußeren Realität erhalten eine innere Bedeutung. Diese Erkenntnisse untermauert Herta Müller mit zahlreichen Textausschnitten, wobei sie zu der Einsicht gelangt, dass seine Literatur „emotionale Nahaufnahme des einzelnen Lebens im Sozialismus, dokumentarische Poesie“ sei. Helmut Frauendorfer untersucht un- ter dem Leitgedanken ‚Lyrik des sparsamen Wortes‘ einige Gedichte aus dem Band „Pappkameraden“ (J. Fuchs, Reinbek 1981), die keine Überschrift haben oder die mit einer Zeile in Majuskeln beginnen. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass in Fuchs‘ Lyrik kein Platz (ist) für lyrische Eskapaden, die ablenken sollen von der eigenen Schuldhaftigkeit.“ Ulla Fix, Sprachwissenschaftlerin, widmet sich dem „Stil der äußersten Durchsichtigkeit“ (Corino), der sich im Gegensatz zur Schreibweise der Prenzlauer Berg-Texte durch „Direktheit, weitgehende(n) Verzicht auf Metaphern, Schlichtheit, einer Mischung aus Dokumentarischen und Literarischem“ auszeichne. Diese Diagnose belegt sie mit einer Vielzahl an Textanalysen, wobei sie auch den polyphonen Charakter der Texte herausarbeitet.

Das 3. Kapitel setzt sich unter dem Stichwort „Leben mit doppeltem Film“ mit den biografischen Stationen des Jürgen Fuchs in Ost und West auseinander. Sein langjähriger Freund, Utz Rachowski, dokumentiert seine ersten Begegnungen mit dem aufsässigen Schüler der Goethe-Oberschule in Reichenbach im Sommer 1968 unter der Überschrift “Die Farben der frühen Fuchs“. Es ist eine subtile Studie, in der die Beschreibung der Farbpalette, die den tastenden Schreibversuchen des angehenden Dichters gerecht werden sollte, mit der einleuchtenden Begründung für Orange endet. Die Bauleute und Architekten hatten sie ihm – post mortem – bei der Gestaltung der Außenwände der Jürgen-Fuchs-Bibliothek im vogtländischen Reichenbach gegeben. Udo Scheer, der 2007 die Studie „Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition“ publizierte, beleuchtet kenntnisreich am Beispiel der Verzahnung von literarischer Opposition und politischer Exmatrikulation das hinterhältige Vorgehen der staatlichen Behörden gegen den Psychologie-Studenten an der Universität in Jena. Andere Beiträge, wie Manfred Wilkes Bericht über das Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus, Andreas W. Mytzes Engagement für die Befreiung von Fuchs aus den Fängen der Stasi im Jahr 1977, Jürgen Serkes Studie über des Dichters Leben auf der Grenze, Lukas Beckmanns Einschätzung der Einstellung des zwangsemigrierten Bürgerrechtlers zur westdeutschen Friedenbewegung und nicht zuletzt Esther Dischereits Bericht über Lilo Fuchs, die Ehefrau von Jürgen Fuchs, komplettieren das Bild einer außergewöhnlichen, immer noch verkannten Persönlichkeit.

Umso wichtiger ist dieser Paperback-Band mit der Fotografie des Dichters, Publizisten und Bürgerrechtlers auf dem Titelblatt. Denn den vielen Facetten seines Lebenswerkes umfassenden Beiträgen gelingt es, ein scharfes Profil in dem bislang vorhandenen Zerrbild von Fuchs zu entwerfen. Es verbindet literarisches Schaffen, publizistische und didaktische Aufklärung, radikal-humanitäres Wirken wie auch politische Überzeugung in einem engen Wechselverhältnis zueinander und verdeutlicht somit den im Titel der Publikation genannten Begriff des Dialogs, den Fuchs mit der zerfurchten doppelseitigen deutschen Realität führte. Damit besteht nunmehr auch für die germanistische Lehre die Chance, den Dichter und Erzähler mit all seinen radikalen politischen Aussagen in den Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur aufzunehmen. Ob ihr dies gelingt, wird auch davon abhängen, ob sie ästhetische Fragestellungen mit fundamental linkem Denken und Handeln in Einklang bringen kann. Der Zeitpunkt, rund 15 Jahre nach dem qualvollen Ableben von Jürgen Fuchs, ist mit dem Blick auf das Anwachsen konservativer und rechtsradikaler Strömungen ist gekommen!

 

 

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Im Dialog mit der Wirklichkeit von Ernest Kuczyński (Hg.). Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs. Halle /S. (Mitteldeutscher Verlag) 2014