Auf KUNO beschäftigen wir uns in diesem Jahr mit den vielfältigen Formen der Lyrik. Die festgefügten Formen haben sich aufgelöst. Prosa kann zu Zeilen zerschlagen werden, Gedichte im Blocksatz eine neue Erscheinungsform erhalten. Eine Fußnote zum weiteren Mißerständnis: Ab heute steht das neue Album der Diskursrocker Tocotronic kaufbereit zum download bereit. Das Cover zeigt eine herangezoomte Form von „Rotes Quadrat. Malerischer Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen“ (nebige Abbildung des Originals aus dem Jahr 1915), des sowjetischen Malers Kasimir Malewitsch und wird daher Das Rote Album genannt, nicht das einzige Bildungshäppchen für die gebildeten Popfans, einige werden ob der DeriDaDa-Songs sicher wieder den Lacancan tanzen.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu’ gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Joseph von Eichendorff
Es gibt tatsächlich popmoderne Kritiker, die verschwurbelte Texte von Dirk Lowtzow mit romantischer Literatur, schlimmstenfalls mit der Lyrik von Joseph von Eichendorff verwechseln. Der von KUNO eigentlich sehr geschätzte Berliner Kritiker Jens Balzer hat gar ganze Essays zu allen Tocotronic–Alben beigesteuert. Das Album Digital ist besser zeigt seiner Ansicht nach, den „Unwillen, aus der adoleszenten Selbstbespiegelung umstandslos in die Analyse und Kritik der Gesellschaft einzusteigen“. Mit dem linksradikalen Chic ihres Diskursrock–Umfelds wollten die Tocotronicer nach Eingenangabe eher wenig zu tun haben. Obschon sie Teil einer Jugendbewegung sein wollten führte das Dagegenseinwollen bei ihnen zu „sofortigen Erschlaffungswünschen“. Bei Pure Vernunft darf niemals siegen konstatiert Balzer einen „postromantischen Löchrigkeitssound“.
Die an Glanztaten und Überraschungen reiche Geschichte von Tocotronic findet nun ihre Fortsetzung mit einem weiteren Höhepunkt, einem wonnepoppigen Werk, in dem alles drinsteckt.
Quelle: Pressemappe des neuen Albums
In der Kunst des Sloganising war Lowtzow jedem Werbetexter in Deutschland ebenbürtig, in guten Momenten kann man Zeilen wie Aber hier leben, nein Danke soagar als Twitteratur bezeichnen. E.L. Doctorow hat mal in einem Essay über die Verantwortung des Künstlers geschrieben, der auf den Satz zuläuft: „Sei dir der Zeit bewusst, in der du lebst.“Diese Verantwortung läßt sich nur schwer einfordern. Der belesene Theoretiker Lowtzow möchte Das Rote Album als Konzeptalbum über die Liebe verstanden wissen, wobei sein Konzept eine Tonspur zu oft ins Thesenhafte lappt oder einem jugendglühenden Tagebuch entlehnt scheint:
Ich öffne mich / Öffne mich gänzlich für dich / Wir fliehen zu zweit / Aus den Kerkern der Zeit
An Slogans mangelt es nicht, doch die Songs der Diskursrocker in diesem wonnepoppigen Werk wirken irgendwie blutleer, bisweilen sogar aseptisch und das bei diesem Thema. Worüber man nicht singen kann, sollte man besser schweigen. Vielleicht hätte Lowtzow bei seinen Songs über Titten, Thesen und andere Temperamente in der Hamburger Schule auf den jungvergreisten Oberlehrer Distelmeyer hören sollen: Lass Uns Nicht Von Sex reden.
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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.