Terzinen über Vergänglichkeit (I–IV)

 

I
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:

Wie kann das sein, daß diese nahen Tage

Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,

Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:

Daß alles gleitet und vorüberrinnt.

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,

Herüberglitt aus einem kleinen Kind

Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war

Und meine Ahnen, die im Totenhemd,

Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,

So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

 

II

Die Stunden! wo wir auf das helle Blauen

Des Meeres starren und den Tod verstehn,

So leicht und feierlich und ohne Grauen,

Wie kleine Mädchen, die sehr blaß aussehn,

Mit großen Augen, und die immer frieren,

An einem Abend stumm vor sich hinsehn

Und wissen, daß das Leben jetzt aus ihren

Schlaftrunknen Gliedern still hinüberfließt

In Bäum‘ und Gras, und sich matt lächelnd zieren

Wie eine Heilige, die ihr Blut vergießt.

 

III

Wir sind aus solchem Zeug, wie das zu Träumen,

Und Träume schlagen so die Augen auf

Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen,

Aus deren Krone den blaßgoldnen Lauf

Der Vollmond anhebt durch die große Nacht.

… Nicht anders tauchen unsre Träume auf,

Sind da und leben wie ein Kind, das lacht,

Nicht minder groß im Auf- und Niederschweben

Als Vollmond, aus Baumkronen aufgewacht.

Das Innerste ist offen ihrem Weben;

Wie Geisterhände in versperrtem Raum

Sind sie in uns und haben immer Leben.

Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum.

 

IV

Zuweilen kommen niegeliebte Frauen

Im Traum als kleine Mädchen uns entgegen

Und sind unsäglich rührend anzuschauen,

Als wären sie mit uns auf fernen Wegen

Einmal an einem Abend lang gegangen,

Indes die Wipfel atmend sich bewegen

Und Duft herunterfällt und Nacht und Bangen,

Und längs des Weges, unsres Wegs, des dunkeln,

Im Abendschein die stummen Weiher prangen

Und, Spiegel unsrer Sehnsucht, traumhaft funkeln,

Und allen leisen Worten, allem Schweben

Der Abendluft und erstem Sternefunkeln

Die Seelen schwesterlich und tief erbeben

Und traurig sind und voll Triumphgepränge

Vor tiefer Ahnung, die das große Leben

Begreift und seine Herrlichkeit und Strenge.

 

 

 

 

Weiterführend

Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.