Ich gehe auf einem dunklen Laufband durch die Nacht, den Kanal entlang, dem Meer entgegen. 30 Kilometer – ein Gewaltmarsch. Ich fühle mich wie der Soldat, der auf das Ende des Krieges zuläuft, in der Hoffnung, in letzter Sekunde doch noch die erlösende Kugel, am besten mitten in die Stirn, zu empfangen, bevor sich ein Frieden auftut, mit dem er nichts beginnen kann. Betrete meinen Tunnel, blende die Hafenlichter aus, blende irgendwann den Rhein aus und das Meer, die Sohlen beginnen zu brennen, als die Nacht noch keine Handvoll Kilometer alt ist. Pausiere, schaue mich um, und hocke mich, als ich niemanden erblicken kann, auf’s Trottoir. Ist das noch Rotterdam, schon das an Rotterdam angewachsene Schiedam, einstmalige Hölle auf Erden, oder keins von beiden? Kaum einmal schleicht ein Lebewesen vorüber, hier spricht mich niemand an, hier bin ich der letzte Mensch. Überall ringsum wohnen Menschen, in verschatteten Wohnkästen, sie sehen genau so aus wie ich, könnte ich mich einfach unter sie mengen, könnte ich für immer verschwinden. Ja, so ist es, ich versuche mich zu verlieren, den Weg zu verschlucken, indem ich mich von ihm verschlingen lasse, ein Tier, das sich vom Schwanz her selber frißt. Das Meer muss ich gar nicht erreichen. Aus der Ferne höre ich es rauschen; gewiß eine Sinnestäuschung: die Autobahn, Maschinen bei der Nachtschicht. Ich schlafwandle im Sitzen, in meinem Gedankenstrom schlagen Gefahren an, seit Jahren, ohne dass je eine reale Gefahr sich mir in den Weg zu stellen gewagt hätte. Erkennt die Gefahr, dass meine Gefährdung in mir selber steckt? Ein Möwenlicht zischt durch den verbauten Himmel und ich forme seine Erscheinung vor meinem unsichtbaren Auge zu einem guten Geist, der mich beflügeln, der mir erlauben soll, meinen Plan einzuhalten, am nächsten Morgen das Meer zu Fuß zu erreichen.
Rhein-Meditation, rhein wörtlich von Stan Lafleur, Edition 12 Farben, Köln 2014/15 – Bestellbar im Buchhandel oder direkt beim Verlag.
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