Jede Liebesgeschichte ist eine potenzielle Leidensgeschichte. Wenn nicht gleich, dann später. Wenn nicht für den einen, dann für den anderen. Manchmal auch für beide.
Julian Barnes
An Liebesgeschichten versuchen und versuchten sich Romanciers immer und immer wieder, denn bekanntermaßen bleibt die Liebe am Ende immer unergründlich und unbeschreiblich.
Auch A.J. Weigoni, vor allem Lyriker und als solcher unweigerlich der Liebe und ihren Begleiterscheinungen zugetan, probiert es mit seinem Roman „Abgeschlossenes Sammelgebiet“ auf eine eher ungewöhnliche Art.
Nicht lange nach der so genannten Wende und dem Fall der Mauer zwischen der Deutschen Demokratischen und der Bundes-Republik suchen und finden im Zeitraum zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990 damalige Zeitgenossinnen und –genossen ihre ganz eigenen Erklärungen für jenes zwischenmenschlich ungeheuer anziehende Phänomen.
Einerseits erleben sie sinnhaft ideologisierend und andererseits zugleich sinnlich lüstern Teile ihrer Lebens- und Liebesgeschichten. Und da Liebe in der Regel zunächst einmal zusammenführt, eignet sich die (Wieder-)Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht zuletzt auch für eine Art Liebesbeweis, dem sich jenes abgeschlossene Sammelgebiet DDR teils freiwillig, teils unter Druck und mit den Mitteln einer friedlichen Revolution öffnete.
Ob jenes erste Verliebtsein unmittelbar nach der Maueröffnung jedoch zur dauerhaften deutsch-deutschen Liebe führen wird, blieb bis zum heutigen Tag offen, zumal viele Liebenden es nach jener Isolierung in ihrem einstigen Staat vorziehen und vorzogen, „in unerforschte Welten aufzubrechen“.
Ein Zitat von Karl Kraus geht dem Romans voraus: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Diesem Motto entsprechend lassen sich Charlotte, Jane und Moritz, die Hauptfiguren des atmosphärisch äußerst dichten Romans über ihr Leben, ihren beruflichen Alltag, ihre Liebesversuche und -Gewohnheiten und das aus, was sie dafür halten.
Der Roman gibt in kurzen Sätzen einen Art Rock’n’Roll-Rhythmus vor und damit den hastigen Takt ständiger Veränderungen, dem heutige wie damalige Zeitgenossen sich offenbar ausgesetzt fühlen.
In Düsseldorf sowie in der „Hauptstadt der DDR“, aber auch bei Fluchten nach Paris und Rügen werden gelebte Tagebücher aufgeblättert. Sie beschreiben und reflektieren anhand vieler ungewöhnlicher Metaphern das dortige Leben der Romanfiguren sowie ihr Denken und Fühlen und bieten es somit den Lesern zum tieferen Mit- und Nachempfinden an.
Weigoni nimmt kenntnisreich sowohl die jeweiligen Ideologien und Glaubensrichtungen seiner Figuren als auch ihre künstlerische und berufliche Ausrichtung zum Anlass, wortspielerisch deren Auffassungen und Empfindungen von ihrer Liebe und ihrem Lebens durchzubuchstabieren.
Der Roman wird dadurch zu einem Abbild der 1989-er Generation, die sich abmüht, zwischen Lebenslust und –unlust ihre Rollen in einer „Coolness der Verzweiflung“ zu spielen. Sicherlich ist dem Autor damit auch gelungen, bei der Bewältigung der Vergangenheit der Zweistaatlichkeit und des kalten Krieges behilflich zu sein.
Manchmal verliert sich Weigoni dabei allerdings im jeweiligen Fachjargon und verlangt den Lesern eine hohe Kenntnis an Fremd- und Fachwörtern ab. Somit ist die Lektüre ohne Wörterbuch und/oder Smartphone sowie „wikipedia“ kaum zufriedenstellend zu bewältigen.
Wer sich jedoch auf diese langsame und intensive Lesart einlassen kann, der wird darüber sicherlich zu einem intellektuellen Hochgenuss ge- und verführt.
Das Buch ist vor allem politisch und gesellschaftlich interessierten Lesern zu empfehlen sowie auch jenen, die sich in der Kunstszene jener Jahre umtun wollen. Da finden – bei aller Liebe – Opern- und Musikliebhaber, Film-Fans, Interessenten der bildenden Kunst und der allgemeinen Kunstkritik sowie anderer Gattungen eine Fülle von Erlebnissen und Denkanregungen.
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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.