Kaum eine Literaturform erregt so vorhersehbar den Verdacht wie der Aphorismus. Kritiker rügen seine Eitelkeit, die Besserwisserei, die Pointensucht, den Tonfall überlegener Altersweisheit. Es verwundert daher nicht, dass viele zeitgenössische Bände vorsichtshalber unter falscher Flagge segeln und im Titel oder Untertitel „Aufzeichnungen“, „Notizen“, „Notate“ und ähnliche Bescheidenheiten verheißen. Philip Kovce jedoch bekennt sich zum Aphorismus und ist vom Jahrgang her (1986) einer der jüngsten Autoren in diesem Metier. Was könnte unzeitgemäßer sein?
„Mit Abstand gesehen ist so manches naheliegend“, lautet einer der fast 500 knappen Sätze in der Anfang des Jahres veröffentlichten Sammlung. Die Aussage klingt paradox, rücken doch mit zunehmender Distanz die Dinge in die Ferne. Kovce geht es um einen Abstand zeitlicher wie ideeller Art, der zwar zur Revision befähigt, die aber ihrerseits Irrtümern unterliegen kann. Gedanken, Pläne oder Sicherheitsvorkehrungen, die zunächst als zu weit hergeholt verworfen oder in der Betriebsamkeit des Alltags überhaupt nicht bedacht wurden, erscheinen später als einleuchtend, wenn nicht sogar als unverzichtbar. Ob sie das tatsächlich sind, bleibt offen; diese Unbestimmtheit enthält bereits das Wort „naheliegend“. Es greift nämlich zu kurz, wenn man die Sentenz nur als Lob des Abstands auslegt. Aus borniert-gegenwärtiger Perspektive, die die historischen Umstände außer Acht lässt, drängt sich auch das als naheliegend auf, was einst – aus gutem Grund – unvorstellbar war. Die leicht pejorative Formulierung „so manches“ ist dann ein Platzhalter für „zu vieles“. Kurz darauf im Buch heißt es: „Sich entfernen: sich annähern.“ Abermals betont Kovce den Widerspruch. Anders als im ersten Beispiel kommt dieser aus eigener Kraft nicht über sich hinaus, was den Rezensenten zweifeln lässt, ob es sich um einen schwächeren Einfall handelt oder doch nur um eine flüchtige Notiz.
„Der Gottesbeweis: eine Quadratur des Teufelskreises“ – so typisch abgewandelte Phraseologismen für die kürzeste Prosaform sind, so untypisch sind sie für Kovces Aphoristik. Diese satirische Definition sei daher als Ausnahme zitiert und als ein gelungenes Exemplar einer modifizierten „Kreisquadratur“. Möglicherweise spielt die Einsicht „An Werte glauben die, die nicht nach ihnen handeln“ auch auf eine Vorlage an. Goethes Maximen und Reflexionen könnten Pate gestanden haben: „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“ Das Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik erschöpft sich aber nicht in einer bloßen Opposition. Weder werden die Theoretiker der Weltfremdheit bezichtigt noch die Praktiker der Heuchelei überführt. Vielmehr verlieren letztere gerade deshalb den Glauben an die Werte, weil sie ihn zu leben versuchen und dabei Ernüchterungen, Selbstzweifel und Enttäuschungen aushalten müssen. Wer nicht zum Handeln gezwungen ist, kann in aller Seelenruhe ethische Postulate aufstellen. Wie ist ein hingegen ein Verbrecher einzustufen? Er handelt – aber gegen die Werte. Glaubt er an sie? Zu unterscheiden sind philosophische Geltung und allgemeine Verkehrsgeltung. Fehlt letztere, gibt es keine Vertrauensbasis, was bestimmten Arten des Betruges den Boden entzieht. Zumindest der Betrüger erweist sich als praktischer Ethiker.
Wesentlich vertrackter ist diese Behauptung: „Hinter grob verfehlten Antworten steckt Unvermögen, hinter den präzise verfehlten Fragen Teufelswerk.“ In der Struktur eines Parallelismus stoßen immerhin gleich drei Gegensätze aufeinander: grob vs. präzise, Antwort vs. Frage sowie Unvermögen vs. Teufelswerk. Aber ist die Konstellation zwingend? Wäre nicht auch eine grob verfehlte Frage eine journalistische oder didaktische Dummheit? Wäre eine präzise verfehlte Antwort, etwa eine gut getarnte Halbwahrheit, nicht gleichermaßen diabolisch? Obwohl dieser Aphorismus zum Weiterdenken anregt, erschließt sich nicht ganz, weshalb Frage und Antwort in diesem Kontext gegenübergestellt werden.
Als Anthroposoph, der u. a. zu Rudolf Steiner und dem Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl publizierte, ist Kovce natürlich die Zahl 3 wichtig. Vermutlich gab dies den Ausschlag, als er Folgendes notierte: „Aller guten Dinge sind drei: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“ Ob die Vermutung zutrifft, kann dahinstehen. So oder so gewinnt diese Ergänzung dem bekannten Motto der Französischen Revolution keinen neuen Aspekt ab.
Mit Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall. Aphorismen hat Kovce ein Debüt vorgelegt, das zwar nicht in jedem ‚Einzelfall’ überzeugt, aber doch zu Entdeckungen einlädt und die eingangs erwähnten Vorurteile gegen die kurze Form widerlegt. Abschließend sei ohne weiteren Kommentar einer der stärksten und zugleich unscheinbarsten Sätze in diesem Band hervorgehoben:
„Wer sich für andere einsetzt, ist fehl am Platz.“
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Der freie Fall des Menschen ist der Einzelfall, Aphorismen von Philip Kovce. Futurum Verlag 2015
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.