Je tiefer ich in die hier versammelten Gedichte einsteige und sie begreife, umso mehr staune ich. Schon das erste Gedicht in dem Zyklus ist ein kleines Wunder. Die Vielschichtigkeit der Verständnisebenen ist enorm.
Nach wenigen Gedichten merkt der Leser: Es geht um Lebensrückblick, Lebenssumme, Erinnerungen, Schmerz, Überwindung, Verdrängung, und all diese schweren Dinge. Der Titel des Buchs deutet es ja schon an: handverlesen. Selbstdeutung des eigenen Schicksals an handverlesenen Gedichten. Die schreibt die Hand im Hirn. In einem Gedicht gibt es die Formulierung: hinter der Nebelwand. Oder: hinter dem Nebel. Das wäre auch ein guter Titel für die Gedichte, die über ein lange gelebtes Leben reflektieren.
Hier und da arbeiten Metrum und Rhythmus inhaltlich mit – oft da, wo sich Strenge oder Härte oder Wunden, Krämpfe oder Erstarrungen lösen, da wird auch das Metrum leichter. So im ersten Gedicht [irreal], das wie ein Schlüssel die Tür zum Verständnis des Ganzen aufschließt:
fänd ich den Zauberweg
dahin
zu dem der ich mal war
trieb ich die Unrast aus
wodurch ich eiligst wuchs
verworfen hätt ich längst den Alp
der sich in mir vergrub
löste den Knoten
der mich zum Schweigen zwang
und würde sprechen
Es ist das ganze Leben, nicht nur ein erlebter Teil, nicht nur die politische Vergangenheit und der Tod, der Meister aus Deutschland, ist das Thema … Flucht: „aus der Wiege gespült | an einen weißen Strand …“ und zweisprachige Kindheit: das familiäre Deutsch einerseits, Spanisch in Uruguay andererseits: „bezweifelte Einwurzelung“ (Rückblende). So wird die Sprache die eigentliche Heimat, obwohl auch immer wieder ein „Absturz der Worte“ (inhärent) droht – das Nichtbegreifenkönnen des erfahrenen Grauens. Nichts aber wäre das Leben ohne das Suchen nach Worten und Sätzen, um die eigene Existenz und die Fremde zu begreifen, die uns umgibt, und die „Erschütterung | die dich zwischen Tür & Angel | kalt erwischt hat“ … „die ererbte Asche | aus heiterem Himmel“. Asche und Sand … sind nicht zu tragen ohne Hoffnung: „die Last deiner Väter | gebeugt zu tragen | brauchst du nicht mehr“ (Vision II). Aber quälend vertraut bleiben die „langen Schatten der Mythen“ – und der eigene Tod am Ende des Lebens.
Alle Tiefen, die das Leben bietet, sind in den Gedichten verhandelt, auch das Leben anderer, nicht nur das eigene Ich. Zum Trotz gegen alle Unsicherheit des Lebens träumt sich das Ich aus der Welt „an erfundene Orte“ (festgestellt) und in die Sprache und die lyrischen Bilder der Gedichte, das rettet zuweilen. Dann wieder Zweifel: „was glauben wir | den Traumfiguren“ angesichts der Gefahr, die „tags im Dunkeln schlummert“?
Es liegt eine Melancholie in den Versen, deren Schönheit bedrohlich gleißt und in die Augen brennt. Schmerzende Wahrheit: homo homini lupus. Und doch – die Kindheit war „nicht nur Schatten und Alb“, es gab „bunte Blätter“ und duftende Erde (Herbst). Und es gibt die Poesie der Sprache! Im „Lied für Gitarre“ heißt es: „was das Gedicht sagt | wenn es schweigt | hüllt sich in Stille | ohne zu verstummen“. Also gibt es doch Hoffnung auf Sagbares und auf Verstehen, auf Übersetzung der Stille in Wissen und Antwort. In einem der schönsten Gedichte, „Lied für Madrid“, scheint das Leben hart und starr und leblos, und doch gibt es
in meinem Wald aus Stein
benetzte Utopie
weht sanft eine Brise
trägt meine Haut ein Lied
Die Gedichte sind prägnant strukturiert und oft wirkungsvoll pointiert. In ihrer zyklischen Einheit verstärken sich die Gedichte noch. Es geht um die großen Fragen im Leben: wie kann ich überhaupt etwas erkennen, warum lebe ich, was bedeuten meine Träume, was bedeuten die Schatten in meinem Herzen, in meinem Gehirn, in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meiner Erinnerung …
Auch das Schreiben und die Literatur ist ein Thema in den Gedichten. Die Poesie ist ein Erkenntnismittel. Sie hilft, mit dem Leben konstruktiv fertig zu werden oder es wenigstens auszuhalten. Ja, manchmal erschaffen die Worte das Leben, oder sie machen es farbiger, wertvoller. Keine fragwürdige Verdrängung ist gemeint, sondern Bewusstwerdung in der Schönheit von Form und Bild, also der Wahrheit, so gut sie der Schreibende und der Lesende zu verstehen vermag.
Noch wichtiger als Schreiben und Lesen ist die tätige Poesie der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie kann, sie soll auch zur großen sozialen Liebe für alle werden. Politik als Poesie! (So sieht es der Philosoph Richard Rorty.) Mit der Liebe im Kleinen müssen wir beginnen. Sie rettet uns als Einzelne, trotz aller Schwierigkeiten und allen Scheiterns. Voraussetzungen für ein gelingendes Leben:
bleib schweigsam mit dir | im Einklang [Imperativ]
und genieße | das Ende dieser Verse [wenn]
auf dem Steg zum Du | Gratwanderung | Grenzwall &
Graben | wo das Schweigen gebrochen wird [Werdung]
Sanft deutet das ein und andere Gedicht auf die Möglichkeit einer besseren Welt hin: „Gewehre krümmen sich … Ophelia steigt aus dem Wasser … & fällt mir in die Arme“. Deswegen gilt:
brich dein Schweigen
wirf ein Wort in den Ring
und bring dich in Stellung
Und der eigene Tod? In den letzten Gedichten taucht die Nähe des Todes auf. Er kann nur überdauert werden durch das Werk, durch das Geschriebene, durch die Verse, die Gedichte, die Gedanken, die Ideen … vielleicht auch durch die Liebe, die einem anderen gegeben wird, die nun weiter wirkt im anderen. Oder … wenns zu weit kommt, so heißt es augenzwinkernd:
& meditierend
wird der Tag kommen
an dem hinter dem Wort
Wärme & Brise
mich heimlich davontragen
& wenns zu weit kommt
werd ich das Schweigen
übersetzen
Dieser Zyklus ergreift mich. Ich bin überzeugt: handverlesen kann in einem Atemzug genannt werden mit der Poesie von Nelly Sachs. Alles gelingt so großartig in den Bildern, in der Sprache, in den Gedanken!
***
handverlesen: Gedichte von Ines Hagemeyer. Mit 15 Tuschezeichnungen von PAPI. POP-Verlag, Ludwigsburg 2015
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