Entscheidung in Aleppo

Walter Rößler war nicht zum Helden geboren. Doch als die Not der Zeit an ihn herantrat, verschloss er sich nicht. Er tat das ihm Mögliche und war auf eine erstaunliche Weise integer.

Das wertende Urteil des Biografen Kai Seyffarth über den Retter vieler Armenier, den Konsul Walter Rößler, verweist auf einige wesentliche Elemente, die den Lebenslauf des aus einer liberal gesinnten Pastorenfamilie stammenden preußischen Beamten bestimmten. Selbstständiges Denken bei aller Loyalität gegenüber dem Staat, humane Orientierung in einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft, Jura-Studium an der Humboldt-Universität in Berlin und  Arabisch-Studium am dortigen Orientalischen Institut als Grundlage für eine Tätigkeit im diplomatischen Dienst. Bereits 1893 erhält er vom Auswärtigen Amt die Erlaubnis, als Dolmetscher Aspirant am Kaiserlichen Konsulat in Sansibar angestellt zu werden. Vier Jahre später ist er Dragoman, ein Dolmetscher, der auch verwaltungstechnische Aufgaben übernehmen darf: Dazu gehören unter anderen auch die diplomatischen Beziehungen zum Sultan und der geschickte Umgang mit den dortigen arabischen Oberschichten, die ihre Untergebenen als Sklaven behandelten. Nach Dienstverpflichtungen im iranischen  Buschehr am Persischen Golf und im ostafrikanischen Mombasa als Konsulatsverwalter (1903) wird er Vizekonsul im palästinischen Jaffa und erhält dort nach einer Konsularprüfung die offizielle Anstellung. Es ist eine Bestallungsurkunde, die ihm – nach weiteren vier erfolgreichen Jahren im kaiserlichen Dienst – die Berufung zum Konsul im syrischen Aleppo ermöglicht.

Die Schilderung der Tätigkeit des Konsuls verbindet Seyffarth mit einer kritischen Darlegung der reichsdeutschen Interessen, die neben gezielter deutscher Bildungsarbeit auch die Ausraubung syrischer kulturhistorischer Schätze umfassten. Er zeichnet auch die deutschen Aktivitäten gegen die britischen Hoheitsgebiete zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf. An diesen Aktionen ist das deutsche Konsulat unter Walter Rößler beteiligt, dessen patriotische Haltung und tadelloser Diensteifer von seinen Vorgesetzten in Berlin lobend erwähnt wird. Nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite von Reichsdeutschland setzte auch die verstärkte Verfolgung der armenischen Bevölkerung in den östlichen Gebieten der Türkei ein. Die entscheidende Auslösung der systematischen Verfolgung und physischen Vernichtung begann nach der Katastrophe des Winterfeldzugs gegen Russland und der Auslöschung der 3. Armee. Ab 24. Februar 1915 wurden rund 200 000 armenische Soldaten entwaffnet, weil die jungtürkische Kriegsführung ihnen die Schuld an dieser Niederlage zuschob. Im deutschen Konsulat wurde die anwachsende Gewalt der türkischen Behörden gegen die armenische Zivilbevölkerung zunächst mit nüchterner Neutralität registriert, darunter auch die verleumderischen Angaben des türkischen Bündnispartners über angeblichen gezielten armenischen militärischen Widerstand. In der Zwischenzeit häuften sich die vom Konsul Rößler unterzeichneten Berichte über Deportationen, grausamen Verstümmelung armensicher Zivilisten und Bitten an seine Berliner Vorgesetzten, man solle wegen der grausamen Tötung der armenischen Bevölkerung bei den türkischen Militärbehörden intervenieren. Doch seit der Verhaftung von tausenden Personen der armenischen Oberschicht in Konstantinopel in der Nacht vom 24. zum 25. April 1915 rollte eine Welle der Vernichtung durch das Osmanische Reich, die die systematische Auslöschung einer ethnischen Minderheit zum Ziele hat. Von Seiten der Entente häufen sich die offiziellen Proteste, während die Militärführung des Deutschen Reichs angesichts des Völkermords an den Armeniern schweigt oder die einzelnen empörenden Berichte ihrer Untergebenen zu unterdrücken versucht.

Seyffarts detaillierte Schilderungen des Todesgangs eines christlichen Volkes, belegt mit dutzenden Quellen, erweisen sich unter Einbeziehung der historiografischen Forschung als wichtige Dokumente. Sie bezeugen nicht nur die zynisch-barbarische Umsetzung der jungtürkischen Vernichtungspläne, sondern auch die  solidarische Hilfe, die reichsdeutsche Diplomaten und Beamte aus dem Gefühl von Rechtschaffenheit und schlechtem Gewissen gegenüber den Deportierten geleistet haben. So wie Lehrer an der deutschen Real-Schule in Aleppo, die angesichts der sterbenden armenischen Kinder auf Straßen und Plätzen diesen zu Hilfe eilten, sie zu retten versuchten (vgl. dazu S. 111-139). Für Rößler und seine Ehefrau Gertrud, wie auch für ihre Kinder, bildeten diese Monate zwischen dem Herbst 1914 und Mitte 1917 eine Zeit höchster seelischer und körperlicher Anspannung. Gemeinsam mit den Erwachsenen, die sich u.a. auch um die Versorgung der vielen armenischen Waisenkinder in den Missionsstationen kümmern mussten, litten auch die Kinder unter dem Anblick der ausgemergelten armenischen Deportierten, die meist nicht mehr gerettet werden konnten. Im Juni 1918 fuhr das Ehepaar mit ihrem jüngsten Sohn nach Berlin zurück. Rößlers Freundschaft mit Pastor Lepsius, der den Genozid an den Armeniern öffentlich machte, führte auch zur Rückführung der Armenien-Akten der Botschaft und aller chiffrierter Telegramme des Konsulats Aleppo. Dieser schnellen Entschlusskraft Rößlers, so Seyffarth, „verdanken heutige Historiker den Zugang zu dieser reichen archivarischen Quelle.“ (188f.) Rößler arbeitete von Oktober 1918 bis  Mai 1919 im Auswärtigen Amt, wo er auch weiterhin Dr. Lepsius bei dessen Zusammenstellung der Armenien-Dokumentation half, wenngleich der subtile Widerstand der Beamten gegenüber dem Aufklärer des Genozids verhinderte, dass alle Schriftstücke erfasst wurden.

Erschöpft von dem anstrengenden diplomatischen Dienst, geschwächt durch ein schweres Nervenleiden, das sich Mitte der 1920er Jahre als Parkinson-Krankheit herausstellte, starb Karl Rößler am 4. April 1929 in Berlin. Die hier vorliegende Biografie, die mit einem hohen zeitlichen Aufwand entstanden ist, wurde großzügig unterstützt von den Nachkommen Walter Rößlers und angeregt von dem Verleger Helmut Donat. Sie stellt aufgrund der umfassenden Quellennachweise, der ausgiebigen Archivalien-Nutzung, des reichen Publikationsnachweises, der aussagekräftigen Bildreproduktionen, der Veröffentlichung des Gästetagebuchs Jaffa /Aleppo aus der Hand von Gertrud Rößler und der Veröffentlichung von authentischen Berichten über den Massenmord an den Armenier ein bedeutendes biografisches Dokument dar. Sein Verfasser, 1962 in Rostock geboren, studierte ab 1984 in Dresden Maschinenbau, 1991 zum Dr.-Ing. promoviert, setzte er sich seit 2001 mit dem Völkermord an den Armeniern auseinander.

 

 

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Entscheidung in Aleppo, von Kai Seyffarth. Walter Rößler (1871-1929). Helfer der verfolgten Armenier. Eine Biografie. Bremen (Donat-Verlag) 2015