der neue lyrikband »Schmauchspuren« von a.j. weigoni enthält gedichte aus den jahren 2005 bis 2015. der titel, der die spuren eines pistolenschusses assoziiert, läßt darüber nachdenken, ob die abdrücke des daseins in der literatur nicht ebenfalls schmauchspuren seien. ist der poet als macher und verfertiger zum verschmaucher und zerschmaucher geworden? bei weigoni heißt es: »der Bewusstseinsstrom versandet in einer / geistigen Mappe zwischen Erinnerungsflecken« und »das Eigentliche verstreicht beim Versuch / es im Bild zu bannen & auf magische Weise / am Verschwinden zu hindern«. das cover-motiv des original-holzschnitts von haimo hieronymus hat ebenfalls etwas schmauchendes.
»die Skepsis zum Lebensprogramm machen.« postuliert der autor. wer dem glück vertraut, ist noch nicht aufgewacht. viele textpassagen benennen desillusionierende erkenntnisse. »dass Freiheit / verloren ist: sobald man sie einsetzt.«, »Wahrheit gibt es nurmehr als Totalitæt des Geredes« oder »Tiefsinnsverweigerung weist auf / eine systematische Auswilderung.« hellsichtig beobachtet weigoni, daß der scheinbar freie mensch tatsächlich meist bloß rollen bedient, wobei es egal scheint, ob anpassungsrollen oder egorollen, weil beides sowieso ineinander übergeht, da der egoistische mensch zum angepaßten menschen wird und umgekehrt.
immer wieder reflektieren die gedichte das spannungsfeld zwischen intellekt und empfinden. schmauchen kann auch genußvolles rauchen bedeuten. und genuß gelingt weigoni, dessen texte spielerisch illusionslos und illusionslos spielerisch sind, durch sein spiel mit worten und klängen. der klappentext nennt seine lyrik »eine fließende Sprachmusik aus Wahrnehmungsfragmenten.« die gedichte selbst erklären des dichters intentionen so: »das Schriftbild in den Klangleib fliessen lassen.« und »einen gravitationsfreien Schwebezustand anstreben.« sprachfluß und rhythmus führen hier zu einem fließen, das den strömungen des wassers ähneln, die nicht ohne strudel und untiefen bleiben und das wogende pulsieren in teils schmerzhafte rhythmik übergehen lassen, indem diese lyrik auf unebenem und kantigem untergrund fließt, in flußbetten, die durch heftige bewegungen eingegraben wurden und nie ganz geglättet werden.
andererseits findet man die fürsprache für eine entschleunigung der lebensformen und wahrnehmungen. »im Schritt-Tempo wird das Unterwegs-Sein / geographisch verortet & erweitert«. der autor sucht nach alternativen zu einer mit rasendem tempo und abrupten wechseln geistig und kulturell durchchoreographierten postmoderne: »in der Rumpelkammer des Realen / am Trauerrand der Erinnerung / zwischen Traum & Traumata / dem Klang des Quellwassers lauschen.« die drei hörbücher Schmauchspuren, Dichterloh, 1/4 Fund , die 2015 unterm gesamttitel »Gedichte von A.J. Weigoni« erschienen sind, bieten ein spektrum seiner sprachundsprechkunst, wobei das hörerlebnis zum lesen seiner bücher einlädt und anregt.
durch ihr sprachspiel haben weigonis gedichte mitunter etwas hieroglyphenhaftes, das der deutung bedarf. jacques derrida schrieb in »Die Schrift und die Differenz«: »Freud denkt zweifellos, der Traum bewege sich nach dem Vorbild einer Schrift fort, die die Wörter inszeniert, ohne sich ihnen zu unterwerfen; sicherlich denkt er hier an ein Schriftmodell, das gegenüber der Rede irreduzibel ist und das wie die Hieroglyphen piktographische, ideogrammatische und phonetische Elemente enthält.«
genau genommen sind die texte in »Schmauchspuren«, die motivisch und stilistisch miteinander verschmelzen, ein einziges gedicht. sie lassen sich indes auch als literarisch verdichtete analytische rede lesen, die gegenwärtige lebensformen bedenkt und kommentiert. weigonis lyrik ist bei allem sprachspielerisch strukturierten und musikalisch komponierten zugleich eine intellektuelle, weshalb man sie nicht ohne permanentes nachdenken, das heißt vorundzurückdenken, lesen kann.
manche passagen klingen wie aufrufe zum handeln, so »aus der Zufriedenheitsfalle ausbrechen« oder »sich nach dem Peitschenknall der Erkenntnis / abseilen in die Dunkelheit / des gelebten Augenblicks.« im rhythmisierten tonfall gehen postulieren und konstatieren ineinander über. manche akteure einer apologetischen gesellschaft postulieren nur noch, was sie konstatieren können, und nennen dies realismus. bei weigoni ist im postulierenden ton oft auch die persiflage nicht weit. wer diese parodierende komponente, die bis zur selbstparodie reichen kann, nicht mitdenkt, wird seine literatur insgesamt nur unvollständig verstehen können.
weigoni wuchs in einer zeit auf, als kreativität vor allem verstöße gegen normen und konventionen verlangte. die klassische moderne war damals noch nicht so weit entfernt wie heute. so setzte er sich früh von älteren traditionen ab und versuchte nicht nur ein denken, sondern auch eine literatur ohne geländer, die zugleich denkprozesse und denktechniken sowie die dialektik der ambivalenzen und paradoxien reflektiert: »jeder Gedanke, den man zu Ende denkt / umfasst sein eigenes Gegenteil«.
hugo friedrich hat wesentliche eigenarten moderner dichtung in seinem buch »Die Struktur der modernen Lyrik« beschrieben. in welcher richtung er die moderne sah, ahnt man schon, wenn man überschriften seiner kapitel und abschnitte liest, so »Traditionsbruch«, »Sprengung der Grenzen«, »Zerstörte Realität«, »Zerlegen und Deformieren«, »Ästhetik des Häßlichen« oder »Theorie des Grotesken und des Fragments«. seine grundthese lautet, moderne lyrik unterwandere normen und konventionen und sei überwiegend dunkel, hermetisch, vieldeutig, entgliedernd, fragmentarisch, paradox, absurd, ambivalent und dissonant. sie bilde nicht die wirklichkeit ab, sondern forme sie um und schaffe gegenwelten. die innere logik werde gegen die äußere gesetzt. das unbekannte sprenge das bekannte auf. mit entsprechenden techniken, etwa der demontage, geht weigoni bis heute über literarische zeitgeistmoden hinweg. seiner vorläufer ist er sich dabei bewußt. »Verdient haben nur wenige Autoren eine Anerkennung, finanziell und historisch, etwa die Kollegen von DaDa und Futurismus oder die Performer von Jazz meets Lyrics. Diese 5 % sind im Literaturbetrieb eher marginalisiert.« (Aus Ich möchte lieber nicht)
friedrich erklärte: »Das Weltverhältnis der Lyrik im 20. Jahrhundert ist mehrfacher Art. Doch bringt es das stets gleiche Ergebnis hervor: Entwertung der wirklichen Welt.«, »Die von der Gewalt der Phantasie entgliederte oder zerrissene Wirklichkeit liegt als Trümmerfeld im Gedicht.«, »Dies alles dient dem dunklen Ziel, in Dissonanzen und Bruchstücken eine Transzendenz anzudeuten, deren Harmonie und Ganzheit niemand mehr wahrnehmen kann.«, »Modernes Dichten ist entromantisierte Romantik.« »Seit RIMBAUD und MALLARMÉ ist der mögliche Adressat des Dichtens die unbestimmte Zukunft.«, und fragte: »Sind uns alle diese Dichter so weit voraus, daß noch kein gemäßer Begriff sie einholen kann und das Erkennen sich darum an jene negativen Begriffe halten muß, um einen Notbehelf zu haben?« auf eben solch unabgegoltenes und uneingelöstes greift weigoni zurück, der in einem brief schrieb: »Kulturell gesehen gibt es wenige bis keine Formen, die im 21. Jahrhundert entstanden sind oder nicht schon im 20. Jahrhundert hätten existieren können.« und »Innovation und Fortschritt sind nicht dasselbe. Die Fortschrittsidee mag Sinn haben in Bezug auf Politik oder Medizin, hat aber keine Verwendung in der Kultur.« die kunst entwickelt sich nicht geradlinig, sondern eher spiralförmig. und die müllkippen der kulturgeschichte halten viel material für kreative rückgriffe bereit, das man nur finden muß.
pierre bourdieu schrieb in »Die Regeln der Kunst / Genese und Struktur des literarischen Feldes«: »Der Prozeß, der die Werke mit sich reißt, ist Produkt des Kampfes zwischen denen, denen aufgrund ihrer (Dank ihres spezifischen Kapitals auf Zeit) beherrschenden Position innerhalb des Feldes am Konservieren, das heißt an der Verteidigung der Routine und der Routinisierung, des Banalen und der Banalisierung, kurz: an der bestehenden symbolischen Ordnung gelegen ist, und denen, die zum häretischen Bruch, zur Kritik an bestehenden Formen, zum Sturz der geltenden Vorbilder und zur Rückkehr zu ursprünglicher Reinheit tendieren.«
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Schmauchspuren, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Weiterführend →
In 2015 erschien der Band Schmauchspuren. Als Forensiker der deutschsprachigen Lyrik anerkennt Jo Weiß diesen Lyriker. Das Dichten als Form des Denkens erkennt Erik Lauer. Holger Benkel betrachtet die Schmauchpoesie von Weigoni. Eine Übersetzung des Gedichts Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 Die Schmauchspuren sind als Einzelband vergriffen und nur noch im Schuber erhältlich. Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.
Juliane Rogge über die Symbiose der Gattungen Lyrik, Musik und Tanz. Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren und von An der Neige in der Reihe MetaPhon. Eine eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung. Lesenswert auch VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, einen Essay von A.J. Weigoni über das Schreiben von Gedichten.