Vorbemerkung der Kulturnotizen-Redaktion: In unregelmäßiger Abfolge stellen wir auf den Kulturnotizen Literaturzeitschriften vor. Wir baten Sarah Katharina Kayß, die Herausgeberin des Transnational um einen Einblick auf die aktuelle Ausgabe.
Es ist noch nicht allzu lange her, da haben die Menschen auf diesem Planeten noch ohne den Verbund von Rechnernetzwerken gelebt. Seit der Erschaffung und Weiterentwicklung der Vernetzung von autonomen Systemen in Form des Internets hat sich die Menschheit so radikal schnell verändert, wie noch nie im Laufe der Geschichte. Heute wissen wir Dinge, von denen die Generation unserer Eltern nicht einmal zu träumen gewagt hat. Wir leben in hashtag-Twittergesellschaften, in denen Menschen Informationen nicht nur in Sekunden übermitteln, sondern auch weltweit verbreiten können. Ich erwische mich häufig dabei, wie ich wehmütig an die Zeiten zurückdenke, als man noch vermehrt Briefe anstatt emails geschrieben hat und zu seinen Freunden einfach hingefahren ist, anstatt ihnen zu texten. Mit jeder neuen Innovation in Sachen high-technology und social-media-Ausbau, erhöht sich scheinbar auch die Verschlackung der Zwischenmenschlichkeit, die Hand in Hand geht mit dem freiwillig bereitgestellten Raub der Privatsphäre.
Der deutsche Soziologe Harald Welzer sieht unsere modernen Gesellschaften nicht nur auf dem Weg in einen neuen Totalitarismus, sondern auch in einen wohl zunächst einmal gewaltlosen aber nichtsdestotrotz schleichenden Wechsel der Herrschaftsform, in dem soziale Plattformen ebenso wie Konzerne wie Google und Co. langsam die Macht übernehmen. Als Totalitarismusforscher weiß Welzer, dass in Diktaturen immer zunächst einmal die Privatheit sowie alles was geheim und verborgen ist abgeschafft wird, um die Menschen längerfristig besser kontrollieren zu können. Google und Co. arbeiten schon seit Jahren an eben dieser Abschaffung des Privaten und kontrollieren auf diese Art und Weise mit unserer Zustimmung bereits mehr als nur die Datenberge im Internet, sondern auch unser privates Leben. Damit ermöglichen wir ihnen, neue Normen und Werte zu schaffen – uns vorzugeben, was normal und angebracht ist, was hip, was uncool, was schön, was hässlich – was erstrebenswert ist und was nicht.
In den letzten Wochen und Monaten musste ich meine Sichtweise auf diese neue, digitale Welt dennoch ein wenig relativieren, denn mir ist aufgefallen, dass die Konservierung von Daten im Web (so gefährlich sie auf der einen Seite auch sein mag) einer ganz anderen Entwicklung entgegensteuert – der Zerstörung von Daten. Und nicht nur dieser, sondern auch der Zerstörung unserer Erinnerung – der Auslöschung des geschichtlichen Gedächtnisses. Mit Buchverbrennungen kann man den heutigen selbsternannten Hochkulturen nicht mehr einschüchternd drohen. Im letzten Monat bin ich nach Potsdam gezogen – eine wunderschöne Stadt, die auf eleganteste Art und Weise das achtzehnte mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert verbindet. Sie beherbergt ein UNESCO Weltkulturerbe neben dem nächsten. Das fällt einem besonders ins Auge, wenn man jeden Morgen mit dem Fahrrad an der Parkanlagen Sanssouci vorbeiradelt und parallel in den Nachrichten mitverfolgen muss, wie die ISIS an anderen, aber nicht allzu weit entfernten Orten der Welt, das Kulturerbe der Menschheit zerstört. Auch, wenn dieser kulturelle Vandalismus durch nichts beschönigt werden kann, so werden die Bilder der Bauten und Landschaften vergangener Tage so zumindest im Internet auf ewig konserviert bleiben, auch und gerade wenn an ihrem Ursprungsort nur noch Asche und Schutt verblieben sind. Genau aus diesem Grunde hat sich mir die Tage ein ganz neuer, eigentlich schöner Gedanken aufgedrängt: The Transnational wird immer eine kleine Nische in dieser Welt finden: Unsere Worte werden bestehen bleiben. Sie sind resistent gegen die Zerstörung von außen, wie ein Antikörper, denn The Transnational segelt als e-book durch die Meere des Internets.
Einige tragen ihn als file auf ihrem Memory Stick mit sich herum oder er steht im digitalen Buchregal, an das keiner mit Hammer und Bagger ran kann. Und selbst wenn sich die Wut der Hacker irgendwann auf die Literatur richten sollte, so kann niemand vermeiden, dass der ein oder andere vielleicht noch seinen unangetasteten Memory Stick oder seinen External Drive irgendwo rumfliegen hat, auf dem The Transnational schlummert, bis ihn wieder jemand entdeckt. Die Worte der Autoren des Transnational sind konserviert. Keine Buchverbrennung, keine ISIS kann ihnen etwas anhaben. Sie sind gemeißelt in die Fugen des World Wide Web und ziehen ihre Wege so lange Menschen ihnen lauschen, sie lesen, teilen und kommentieren.
Die Literatur, als eine der ältesten Errungenschaften der Menschheit hat einen Weg gefunden zu überleben. Die Moderne schenkt ihr die Grundlage und ihr schenkt ihr dieses Leben. In dieser Ausgabe vereinen sich 25 Autoren und kommentieren das Leben, geben uns Einblick in ihre Sichtweisen und machen Aufmerksam auf Dinge, die sie bewegen und die vielleicht auch andere bewegen könnten oder sollten. Sie geben uns somit ein Stück Ewigkeit. Wir können diesen Stimmen zustimmen oder gegenargumentieren, eigene Gedanken formulieren oder die bereits bestehenden Gedanken ergänzen – all das, aber wir können sie nicht vernichten; wir können sie nicht dem Erdboden gleich machen. Wir schaffen unser eigenes Kulturerbe aus Worten, Sätzen und Meinungen.
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KUNO empfiehlt: Ich mag die Welt so wie sie ist von Sarah Katharina Kayß, Allitera Verlag, München, 2014.
Politische Lyrik erlebt eine Widerkehr. Die Sammlung Ich mag die Welt, so wie sie ist läßt sich als Abgesang auf die Postmoderne lesen. Man genießt das Verspielte und Neugierige, das hier neben dem kritischen Impetus waltet. Kayß behandelt politische Themen wie Altlast, Schuld, Amerika-Skepsis: „unterdrückte Schreie und laut gewordenes Schweigen / werden zur Karnation dieser Texte“. Spezialwissen braucht es für die Lektüre nicht, wohl aber Offenheit. Diese Gedichte sind brauchbar, für Alltag und Politik, für das Wahrnehmen und für das Verstehen. Und sie können dennoch Lyrik bleiben.