Die Bühnenfassung von Juli Zehs Roman SPIELTRIEB in der Werkstattbühne (Oper Bonn) ist ausgezeichnet und schauspielerisch großartig umgesetzt. Mir gefiel die hoch begabte junge Schauspielerin in der Hauptrolle (Ada). Eine unterhaltsame Aufführung, 100 Minuten lang Freude für Hirn und Herz, und die Augen, gut inszeniert, gut eingerichtet für die Bühne.
Das adoleszente Philosophieren und abenteuerlich-kriminelle Handeln der beiden Schüler (in einer Sprache, die allerdings auch intellektuelle Schüler nie sprechen) und die beiden Lehrer (Höfi, Mathematik, und Smutek, Deutsch und Sport) führt zu einem geistigen Experiment: Die Verführung Smuteks im Rahmen eines kommunikativen Spieltriebs. Es geht um Macht über Mitschüler und Lehrer. Und um den Beweis, wie leicht man mit seinem Leben und dem der anderen spielen kann. Da werden die pausenlos hingeschleuderten Sentenzen von Ada und ihrem drei Jahre älteren Mitschüler Alev oft zynisch. Insbesondere Alev tritt hochnarzisstisch auf. Die postpubertären Sprach-Spiele bewegen sich zwischen altklugem Nachplappern von Gelesenem und banalen Statements. Man gefällt sich im Behaupten, man gehöre einer völlig neuen Generation an, die alles Moralische überwunden hat und alle Verhaltensweisen durchschaut und manipulieren kann. Ada bleibt hin und wieder skeptisch.
Es gibt eine gewisse Nähe zu Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften bzw. zu Heiner Müllers QUARTETT, Juli Zeh bricht es intelligent herunter auf das Niveau Postpubertierender, und das Ganze als Großmetapher für den Zustand der Moral in unserer Gesellschaft.
Der Schluss des Stücks weist, wie auch die lange geheim gehaltene psychische Gewalt, Parallelen mit Musils Erzählung „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ auf. Aber im Unterschied zu den jungen Kadetten greift das gefährliche Spiel der Gymnasiasten in die Lehrerwelt ein. Während die Jungen in der österreichischen Kadettenanstalt sich – besonders was ihre Sexualität angeht – sehr unbeholfen verhalten, als sie zur Hure Božena gehen, bewegen sich Ada und Alev clever auf der Ebene der Erwachsenenwelt. Das Ende: Smutek wehrt sich, als er die Erpressung durch seine Schüler nicht mehr aushält, mit Gewalt, er schlägt Alev brutal nieder. Die Sache kommt vor Gericht, der Prozess endet für alle mit glimpflichen Urteilen. In Musils Erzählung führt das Spiel mit dem ES im ICH-Bereich der Schüler unter starkem Leidensdruck aller Beteiligten über Verletzungen untereinander zu einer ersten Stufe im Erwachsenwerden. Bei Juli Zeh führt das Spiel gegen die ÜBER-ICH-Instanzen zwar auch zur gegenseitigen Entfremdung aller, doch in einem viel bewussteren Prozess kommt es über zunehmendem Zweifel zu Selbsterkenntnissen und einem höheren Grad an Erwachsenheit, weil die Hürde der Sexualität nicht, wie im Fall der deutlich jüngeren und unerfahreneren Knaben, die entscheidende Rolle bei der Reifung spielt.
Juli Zehs Stück mag ziemlich konstruiert erscheinen, aber das macht Sinn. Der schlaue Zuschauer/Leser muss alles Metaphorische und Überspitzte runterbrechen auf das Glaubhafte. Es ist vollkommen klar, dass selbst die allerbesten Schüler, wenn sie ernsthaft diskutieren, nicht so elaboriert reden wie im Roman oder im Bühnenstück. Mich stört das nicht, im Gegenteil. Ich suche auf der Bühne und auch in Romanen nicht die realistische Abbildung.
Die Wenigsten wissen, dass hinter dem Ernst-Bloch-Gymnasium das Pädagogium Otto-Kühne-Schule steht, die meisten Pädaner wissen nicht, wer Juli Zeh ist. – Die viel zu intensive Nähe zwischen Lehrern und Schülern auf dem Päda war immer schon – vor allem zu Zeiten, als es das Internat noch gab – kein Ausweis pädagogischer Meisterschaft. Lehrer drangen viel zu sehr in die Hirne ihrer (vor allem begabten) Schüler ein. Juli Zeh zeigt, wie das dann eben auch mal umgekehrt zurückschallt. Ich bin überzeugt, dass sie sich den sehr narzisstischen Lehrern durchaus so überlegen fühlte, wie sie das Ada sagen lässt. Inwieweit sich das Machtkampfspiel mit Smutek im Kopf abspielte oder tatsächlich zutrug, ist nur eine Frage nach den Anteilen – es handelt sich um eine Melange von Wirklichkeits- und Vorstellungsebenen. Juli Zehs Roman stieß in eine Wunde: Es gab neben pädagogisch-platonischen Übergriffen auch sexuellen Missbrauch am Päda, der erwiesen ist. Mit diesem Material spielt Juli Zeh, und sie greift weit über diese Realitäten hinaus und schrieb einen Roman über adoleszente Wirklichkeitsaneignung, und in diesem Prozess wird die Unvollkommenheit der Erwachsenen-Welt am Beispiel der pädagogischen Binnenwelt gespiegelt.
So gesehen stellt sich der Roman „Spieltrieb“ ebenbürtig neben andere große Adoleszenz-Romane, etwa Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Das ‚Experiment’, das Alev und Ada inszenieren, will Selbstbefreiung. Die gelingt nicht ganz. Aber sie ist belletristisch neuartig und eine wirklich gute Idee.