Der Name des Verlags, den Dietmar Pokoyski und Enno Stahl 1988 begründeten, war Programm: KRASH. Seine Existenzberechtigung lag in einer konsequenten Fortführung der Moderne: von Dada und Surrealismus, den Experimenten von Laut- und visueller Poesie zur Postmoderne; ein Konzept, das „nicht nur das Gewesene, sondern etwas von der Möglichkeit der Aktualisierung und eines in diesem Sinne „Darüber-Hinaus” beinhaltet, wie Karl Riha einst über die kollisionsfreudigen Krachmacher aus dem Rheinland bemerkte. Eine Tradition, die Stahl lange Jahre mit dem Nachfolgeprojekt KRASH NEUE EDITION konsequent fortführte.
Als Romanautor versucht Enno Stahl zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus dem Kanon unserer kulturellen Denk- und Handlungsmuster, die sich vom Kapitalismus herleiten, erneut einen Skandal zu machen. Er gibt dem Zweifel und dem Fremden in der Welt eine Stimme, will nicht einfach das Bekannte und Erwünschte handwerklich kompetent verschachteln. In seiner sozial-realistischen Prosa inszeniert Stahl eine grandios groteske Figurenentblössungsshow, insbesondere in seinem Roman „Winkler, Werber“ (2012), hier beschreibt er einen intellektuellen Kleinbürger mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, der in der Werbung arbeitet.
Mit einem Prolog startet der Text furios: „Also die Werbung ist die zweite Realität. Oder sogar die erste. Und wer hätte das besser kapiert als ich, daher bin ich eben, bin ich…“. Damit ist der Ton angeschlagen, der sich in einer monomanischen Reflexionsprosa unerbittlich bis zum Ende durchzieht. Stahl ist ein Erzähler von wildbachähnlicher Eloquenz. Bekenntnis und Befund scheinen anekdotisch, sind aber elementar. Diese Prosa lebt von einer erstaunlichen Schärfe der Wahrnehmung, gleichzeitig von einer ebenso erstaunlichen Ichbezogenheit. Stahl analysiert die Mittelstandsdeutschen in ihrer unüberbietbaren Mediokrität und präsentiert eine Kunstsprache mit teilweise abgehackten, repetitiven Stummelsätzen mit einer souveränen Nonchalance.
„Winkler, Werber“ ist ein Dokument für das ausgekühlte, abgeklärt illusionslose Lebensgefühl einer Generation. Cool begegnen sich Menschen darin, gefangen im interessiert-desinteressierten Ichbezug. Der Klimawandel hat auch im Beziehungsbiotop Rheinland stattgefunden. Der Roman balanciert auf der ununterscheidbaren Grenze von wahrer und falscher Lebendigkeit, gutem und schlechtem Symptomen. Als Soziologe diagnostiziert Stahl, dass die postmoderne Gesellschaft vor allem durch Bindungslosigkeit und Desinteresse funktioniert. Pluralisierte und individualisierte Gesellschaften fühlen sich durch Unverbindlichkeit verbunden. Abstand ist ihr Kennzeichen. Die Struktur der liberalisierten Arbeit – Isolierung, Austauschbarkeit, wenig Absicherung und hohes Risiko – bildet sich sichtlich in diese Prosa ab.
Man kann diese Literatur als Geigerzähler betrachten, die die psychischen Strahlungen in einer endsolidarisierten Gesellschaft registriert. Stahl schildert die spirituell entleerte Postmoderne, in der sich Anstößiges mit Visionärem vermengt, die Banalität mit der Schwermut. Sie ist bevölkert von Egomanen ohne Ego, von Erotomanen ohne Eros. Dabei beschreibt er die Lebenswelt des beginnenden 21. Jahrhundert mit einer klinischen Kühle und Sterilität, als operiere er den Patienten am offenen Herzen. Stahl konstatiert, daß die Folgen der Globalisierung in der rheinischen Bucht angekommen sind. Hier leben Menschen, an denen alles abperlt: die Natur, Mitgefühl, Sympathie, Moral, die skrupellosen Umstände, unter denen ihr Reichtum entstanden ist. Diese Haltung kritisiert er. Als sozial-realistischer Romanautor will Stahl den Glauben an die Veränderbarkeit einer schlecht eingerichteten Welt befördern.
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Die Preisverleihung findet heute, am 14. November 2015 ab 19:00 Uhr im Salon Atelier, Adlerstraße 66 in 44137 Dortmund statt.
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Im Jahr 2001 wurde mit dem Hungertuch vom rheinischen Kunstförderer Ulrich Peters ein Künstlerpreis gestiftet, der in den Jahren seines Bestehens von Künstlern an Künstler verliehen wird. Es gibt im Leben unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen. Letzteres manifestiert sich in diesem Künstlerpreis.
Die Dokumentation des Hungertuchpreises ist in der erweiterten Taschenbuchausgabe erschienen: Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Und ein Recap des Hungertuchpreises. Eine Liste der bisherigen Preisträger finden Sie hier.