Pflotsch!

 

Der 1982 bei Bern aufgewachsene (fast erblindete) Schweizer Autor diktiert seine Texte in den Computer. Er erzählt „eine existenzielle Geschichte zum Thema Schuld.“ Es ist ein mysteriöser Kriminalfall, den der Leser mehr erahnen muss, als dass er aufgeklärt wird. Anders gesagt, Fehr will keinen üblichen (analytischen) Krimi schreiben, sondern einen Ausschnitt aus dem existenzialistischen Gefüge vom Einzelnen im gesellschaftlichen Geflecht geben. „Ich arbeite absolut ohne Bewusstsein für die Leser. … Diese Geschichte ist wahr, weil sie aus diesem Ursumpf kommt, den ich meine Kreativität oder Ideen nennen kann … Das Buch lässt etwas offen, das man mit eigenen Bildern füllt.“

Schwarz, ein Landmann wird von Anatol Griese, dem Gemeindsverwalter, zu Frau Weiss von der Sozialhilfebehörde in der Kantonshauptstadt, gebracht, die den Fall quasi polizeilich übernimmt: In dem riesigen Haus von Schwarz befindet sich ein Waffenlager und eine riesige Geldsumme, die Ehefrau ist verschwunden, die Leute vermuten Mord. Eine möglicherweise umstürzlerische, vermutlich aber nicht sozialistische, Vereinigung junger Leute, die in der Erzählung nicht auftritt, hat mit dem Waffenlager zu tun. Die fragmentarisch erzählte Handlung erscheint wie eine Metapher für die Schweiz: Das geheime Geld, das Waffenlager – Schweizer Banken und Waffenexport, bürgerliche Enge und Wohlstandsverwaltung – das ist die Folie, auf der sich die Figuren mit sprechenden Namen in dieser szenischen Erzählung mit lyrischem Einschlag bewegen. „Die Schweiz ist dreckig“, sagt Fehr, man muss „kritisch bleiben, hinterfragen, stören … Dass wir Konzerne beherbergen, womit wir uns direkt verantwortlich machen für den Tod von massenhaft Lebewesen. Das ist für mich ein Leiden.“

Kapitel 16 (genau in der Mitte des Buchs): Griese, der Gemeindsverwalter, kehrt nach der Übergabe Schwarz’ noch einmal zurück zu dessen Haus. Nach ergebnisloser Inspektion mit Taschenlampe verlässt das finstre, scheinbar leere Haus, in dem er seltsam schlurfende Schritte hört, und steigt wieder den Berg hinauf zu seinem Auto im Wald, als das geheimnisvolle Gebäude mit dem Waffenlager explodiert:

            es wird taghell

Holz birst

er sieht noch Splitter an sich vorbeifliegen

landet dann mit dem Gesicht im Matsch

Adieu

hinter ihm geht gewaltig die Sonne auf

das riesige Dach fliegt davon und verflüchtigt sich

ringsherum schlagen Splitter ein

der helle Wahnsinn bricht aus dem Haus aus und

    schlägt sich Bahn ringsherum

der Knall drückt Griese nachhaltig in die Ohren

das Gesicht im Schlamm kriegt er keine Luft

rudert

jetzt fährt ihm auch die gewaltige Hitze über den

   Rücken

er reisst den Kopf aus der Brühe

reisst Luft hinein

voller Staub

hustet

röchelt

lässt sich auf den Rücken fallen

über ihm der Himmel voller Funken

die Nacht dunkelt wieder ein

aus der Erde recken sich Feuerzungen

[…]

Inferno

Griese dreht sich wieder auf den Bauch

wühlt wie eine Sau

kommt hoch

röchelt

hustet

hört nichts

schleift sich davon

allmählich den Hang hinauf

in den Wald

hockt in den ersten Bäumen noch einmal ab

in der Tiefe brodelt und feuert es

gelangt später einmal an den Wagen

macht hinten die Türe auf

dann wieder zu

macht vorne die Türe auf

legt Plastik über den Fahrersitz

hievt sich hinein

klatscht die Türe zu

bleibt im Kalten sitzen

es ist stockfinster

er atmet schwer

später kommen die Ohren zurück

später hört er die Feuerwehr durch den Wald

   brausen

„Leck mir am Arsch“

schluchzt

diesmal hemmungsloser und kontinuierlich

Gespräche und Telefonate (einseitig notiert) gehören zum Besten in dem kleinen Buch, das in versähnlichen Zeilen notiert ist, ohne Punkt und Komma, es gibt nur Anführungszeichen in den 32 oft filmszenisch wirkenden Kapiteln. Durch das im Ausdruck starke Hochdeutsch schimmert immer wieder Stil, Satzbau und die ganze Färbung des Schwyzerdütsch, der deutsche Leser spürt das Anarchische und Archetypische der Kommunikation vielleicht besonders deutlich. „Die Kargheit, Reduktion, Destillation. Eine existenzielle Geschichte mit einer gewissen Musikalität. Das bin ich. Das ist meine Religion.“

 

***

Simeliberg, von Michael Fehr. Verlag Der gesunde Menschen Versand, Luzern 2015.

[Alle Zitate entnahm Ulrich Bergmann einem Gespräch in: DIE ZEIT 16/2015 vom 16.4.2015]

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.