Modernes Antiquariat

 

Zu den traurigsten Nachrichten gehörte in diesem Jahr, daß “Der große Conrady“ auf dem Ramschtisch gelandet ist.  Es ist die Mutter aller Lyrik-Anthologien, die mit dem Wessobrunner Gebet aus dem 9. Jahrhundert beginnt und mit einem Gedicht von Ann Cotten endet. Axel Kutsch kommentierte:

 

“Der große Conrady – Das Buch deutscher Gedichte” ist unter die Räder einer kaltschnäuzigen Verlagspolitik geraten. Die Reste dieses Standardwerks mit einer Gesamtauflage von rund 180 000 Exemplaren seit der ersten Ausgabe im Jahr 1977 werden verramscht, wie das Bibliographische Institut (Duden, Meyers, Artemis & Winkler, Cornelsen Scriptor) dem renommierten Literaturwissenschaftler und Herausgeber Professor Karl Otto Conrady in einem knappen Schreiben mitteilte.

Immerhin sind im vergangenen Jahr noch 662 Exemplare dieser 1378 Seiten umfassenden Anthologie verkauft worden. Erschienen war die vierte erweiterte Ausgabe, die einen Bogen vom 9. Jahrhundert bis zu den 1982 geborenen Autorinnen Nora Bossong und Ann Cotten schlägt, 2008 bei Artemis & Winkler.

Offenbar gibt es in unserer Verlagslandschaft an entscheidenden Stellen manche traurige Gestalten, die mit der Pflege von Dichtung wenig bis nichts am Hut haben – selbst dann nicht, wenn eine inzwischen legendäre Gedichtsammlung auch nach Jahrzehnten noch viele hundert Käufer findet. Aber das entspricht wohl nicht der Marktstrategie von Führungsriegen, die oftmals so verfahren, als würden sie mit Senfgurken oder Gartenzwergen handeln. Wenn erwartete Gewinne nicht mehr erzielt werden, dann geht’s den Büchern eben an den Kragen, wird eine noch immer gefragte großartige Lyrik-Anthologie in die Ramschkiste geworfen.

Eine geistige Gartenzwergmentalität hat in den Zeiten des Turbokapitalismus in manchen größeren Verlagen Einzug gehalten. Und da trifft es vor allem die Lyrik. Erbärmlich!

 

 

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Der große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausgewählt und hrsg. von Karl O. Conrady

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.