1976, als Traian Pop Traian in Temeswar Gedichte wie „Der letzte Schnee“ verfasste, notierte ich in mein Tagebuch, wie ich das Fahrrad geflickt hatte, um mit den Nachbarskindern um die Wette zu fahren. Dass es Rumänien gab und wo ungefähr es lag, davon hatte ich bestenfalls eine schemenhafte Ahnung. Von der Securitate hatte ich ganz gewiss nichts gehört, geschweige denn von ihrem infamen Vorgehen.
Und als Traian Pop 1990 nach Deutschland übersiedelte und begann sich in Ludwigsburg eine neue Existenz aufzubauen, verfolgte ich den Zusammenbruch des Sozialismus und der deutschen Grenze zwar mit Interesse, aber ohne wirklich persönlich betroffen zu sein.
Was ich damit andeuten will, ist die Tatsache, dass ich die Bedingungen unter denen Pops Gedichte entstanden sind, nicht kenne. Was ich „kenne“, ist lediglich ein sprachlich vermittelter Rahmen, nicht mehr.
„Die 53. Woche“ beinhaltet Gedichte aus vier Jahrzehnten, chronologisch angeordnet, zunächst handelt es sich um nahezu ausschließlich in Temeswar entstandene Gedichte, später, ab den 90er Jahren tauchen andere Orte auf. „Die 53. Woche“ ist somit auch so etwas wie eine Lebensreise.
Der Gedichtband beginnt mit einem Stillleben, das mitten hineinführt in die Absurdität einer falschen und gerade deshalb so beklemmenden Logik.
Gerhard Falkner hat vor vielen Jahren in „Der Unwert des Gedichtes“ geschrieben, der „lineare“, „unzulängliche“ Leser sei dem Gedicht nicht zumutbar. Man muss sich vielmehr verwickeln lassen, sich verirren und eine Weile ausweglos verharren, um dem Gedicht gerecht zu werden. Denn darum geht es, dass der Leser dem Gedicht gerecht wird, und nicht anders herum.
Ich habe nicht das Gefühl, Pops Gedichten gerecht zu werden, aber vielleicht ist dieser Kampf um einen Zugang genau das, was ihnen gerecht wird. Vielleicht muss es so sein, wenn Gedichte immer wieder Wunden aufreißen (wie es im letzten Gedicht des Bandes „(MEIN) TROJANISCHES PFERD“ heißt), die nicht meine Wunden sind.
Eine weitere Schwierigkeit besteht unter Umständen darin, dass „Die 53. Woche“ eine Übersetzungsarbeit ist, die fünf unterschiedliche Übersetzer bewältigt haben, so dass bei allem Talent und aller Kompetenz der Übersetzer, möglicherweise einige Sprachbilder, Metaphern usw. verloren gehen. Es ist ja mit jeder Übersetzung so, wie in den Zeilen von Wallace Stevens, die Esther Kinski ihrem klugen und kenntnisreichen Buch über das Übersetzen (Fremdsprechen) vorangestellt hat.
„They said: You have a blue guitar
You do not play things as they are.
The man replied: Things as they are
Are changed upon the blue guitar”
[The man with the blue guitar – Wallace Stevens]
Der erste der drei Blöcke, in denen die Gedichte zusammengestellt sind, heißt „Betroffenheit in einer Ausstellung“. Wer ist da betroffen und wer (oder was) wird ausgestellt?
Der Band beginnt mit einem „Stillleben“. Der Titel legt die Vermutung nahe, es könnte das Leben selbst sein, das ausgestellt wird. Das eigene Leben, das, wie von außen betrachtet, Betroffenheit hervorruft. Eine paradoxe Situation.
Rätselhafte Szenen werden beschrieben, Kinder, die ihre Schritte beschleunigen,
„die am Ende
für die Gesänge nicht reichen werden…“
„Teilnahmslose Türen“, wie es im letzten Gedicht dieses Blockes heißt, die sich nur einen Spalt breit geöffnet haben, bevor sie erneut zuschlagen, und ein neues Kapitel aufgeschlagen wird; „Die 53. Woche“. Auch hier zieht mich besonders das erste Gedicht an. Alles scheint belebt in der zugeschneiten, abgebrannten Kirche:
„wirr greifen die Arme der Orgel um sich“
Der Schnee, der seit drei Wochen fällt und dem Priester zu schaffen macht, könnte aufhören, wenn jemand zur Messe kommt, das, was unter Schnee begraben wird, das droht vom Schnee ausgelöscht zu werden, könnte befreit werden, neue Gültigkeit erlangen, wenn jemand glauben würde, wenn jemand da wäre, der dem was ist, was beschwert, Glauben und Vertrauen entgegen setzen würde. Ein traurig schönes Bild für Einsamkeit und Hoffnung.
Der letzte Schnee
Bei der abgebrannten Kirche
schneit es seit drei Wochen
den Heiligen sind Hüte gewachsen wie Pilze ihre Schirme
in den Regen spannen
die Stimme der Glocke kauert im Krähennest
des vorigen Sommers
wirr greifen die Arme der Orgel um sich
ein Schiff mit toten Segeln
noch nie hat der Schnee dem Priester so zu schaffen
gemacht
schamlos beharrlich wachsen die weißen Berge
als wollten sie den letzten Tropfen Glauben aus ihm
quetschen
die Saat des Teufels scheint in dieser Gegend
aufzugehen
murmelt er in seinen längst vereisten Bart
und schüttelt während er wiederholt auf Holz klopft
seine weiße Mähne
morgen
kommt vielleicht jemand zur Messe
dann wäre dies
der letzte Schnee
Es regnet und schneit überhaupt viel in den Gedichten, die unter der Überschrift „Die 53. Woche“ zusammengefasst sind, es gibt viele Bahnhöfe, stillgelegte Züge, Straßenbahnen, immer wieder ist die Rede vom Verlassen, ohne den verlassenen Ort los zu werden, vom Wiederkehren, ohne Anzukommen, es ist Winter und Herbst, nie Frühling oder Sommer, die Natur erscheint als etwas, das dem Menschen das Leben zusätzlich erschwert, unwirtlich und wenig einladend ist.
Nun hat das Jahr aber nur 52 Wochen, die 53. Woche liegt somit von vornherein außerhalb des Realen, Tatsächlichen. Im Reich des Unmöglichen, aber gleichzeitig, gerade dadurch in einem Bereich, dem die Wirklichkeit nichts anhaben kann, der vor der Wirklichkeit geschützt ist. Im titelgebenden Langgedicht heißt es dann auch eingangs:
„Der Augenblick kann kein kleines einmaliges Leben mehr
umfassen…“
Der abschließende Block ist übertitelt „Alles ok“. Hier sind nach 1989 entstandene Gedichte versammelt, Gedichte, die von nicht verheilenden Wunden sprechen.
Pops Gedichte verzichten auf Reime, sind rhythmisierte Prosa. Einfache Aussagen und Behauptungen werden aneinander gereicht, aufgezählt. Die Irritation entsteht nicht allein durch die surrealistischen Bilder, die immer wieder eine Atmosphäre der Bedrückung und Bedrohung entstehen lassen, sondern vor allem im konsequenten Verzicht auf Eindeutigkeiten. Stattdessen arbeiten die Gedichte mit dem Widerspruch.
„[…] die Unordnung der Welt“, in der simple Logik der Wirklichkeit stets aufs Neue widerspricht, „nach Gesetzen einer höheren Ordnung quasi dingfest zu machen und Ereignis werden zu lassen. Dahin geht die Bemühung von Traian Pop Traian und das ist seine erstaunliche dichterische Leistung“, schreibt Georg Scherg im Nachwort.
Also nicht so sehr das „Unsichtbare“, vielmehr das im wahrsten Sinne des Wortes „Ver-rückte“ der Situation, der Lage, wird in Pops Gedichten zum Ausdruck gebracht.
Nach der Lektüre glaube ich zu verstehen, dass in „Die 53. Woche“ Gedichte versammelt sind, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden sind, der Hoffnungslosigkeit etwas entgegen zu setzen. Die Erfindung einer 53. Woche ist somit alles andere als Flucht, sondern vielmehr die Leistung mittels Poesie einen Raum zu errichten, in der sich, allen äußeren Umständen zum Trotz, eine Atmosphäre der inneren Freiheit entfalten und erhalten kann.
* * *
Die 53. Woche, Gedichte von Traian Pop. Aus dem Rumänischen übertragen von Gerhardt Csejka, Horst Fassel, Edith Konradt, Johann Lippet und Dieter Schlesak. Edition Monrepos, 2013
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