Poetische Performance

Coverphoto: Leonard Billeke

Awch behelt daz gemell dy gestalt der menschen nach irem steben.

Albrecht Dürer 

A.J. Weigoni erinnert mit seiner dichten Lockenmähne nicht nur an einen attraktiv gealterten Rockstar, das selbstironisch verwendete Vor-Bild findet sich auf einem Gemälde, Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock aus dem Jahr 1500. Der alte Meister hat mit diesem Sinnbild von sich das Selbstverständnis des modernen Künstlers erfunden. Der Photokünstler Leonard Billeke hat mit Weigoni dieses gemalte Selfie nachgestellt. Aus AD wurde der digitale Widergänger AJ. Walter Benjamins Frage nach der Verlust der Aura stellt sich im Zeitalter der Selbstphotographie auf neue Weise, dies korrespondiert mit Weigonis Diagnose, die er mit seiner Poesie stellt: dem Verlust der Individualität.

Dass wir es zugleich mit einer hoch artistischen Demonstration, einem verbalen Theaterspiel zu tun haben, wird nicht zuletzt signalisiert durch die Einteilung der Texturen in fünf Akte mit musikalischer Be­zeichnung der jeweiligen Tempi und Stimmungen. Den eindrucksvollen lyrischen Sequenzen des ersten Teils, ausgezeichnet vorgetragen.

Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier

Photo: Dieter Meth

Zu den schwierigsten Disziplinen im Künsterleben gehört die hohe Kunst des Aufhörens. Den wenigsten Künstlern ist es vergönnt, Bühne und Rampenlicht rechtzeitig – also in Würde – hinter sich zu lassen. Auf der Bühne verkörperte Weigoni eine absolute künstlerische Hingabe und eine unaufgeregte Unbedingtheit. Für diesen VerDichter war das Medium Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen galt, dies kann man nachhören in der Live-Aufnahme der Prægnarien. Mit hoher Konzentration realisierte er gemeinsam mit Philipp Bracht auf seinem Abschiedskonzert eine  Polyphonie aus Silben und Wörtern, als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich-Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Es explodiert manches Wort darin und zerfällt in sehr viele neue Bedeutungen. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil noch so gering ist. Seinen Rückzug von der Bühne begründete der Performer in diesem Online-Magazin mit folgenden Sätzen.

Ganz im Gegensatz zu den anderen “experimentellen” CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren, so scheint es. Diese Lyrik ist gespickt mit ihren starken Metaphern und drastischen Vergleichen, dieser barocke Überfluss an Sinneseindrücken verschlingen den Hörer von der ersten Sekunde an. So geht es einem mit diesem Hörbuch: Man will mit beiden Ohren hineinhören in dieses sinnlichen Sprachgemisch. Das Hörbuch Gedichte umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die „einfach nur genießen“ wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis. Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen, bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

 

 

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Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Prægnarien, Hörbuch von Philipp Bracht, Frank Michaelis und A.J. Weigoni. Eine limitierte Auflage von 50 Exemplaren ist versehen mit einem Original von Haimo Hieronymus. Edition Das Labor, Mühleim an der Ruhr 2013

Auf dem Cover finden wir paßgenau hingetuschte Porträts.

Hörproben → Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.

 → Lesen Sie auch die Würdigung von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.