Zum Geleit

Vorbemerkung der Redaktion: Zum näheren Verständnis zu den Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie baten wir den Übersetzer Ulrich Bergmann um eine Vertiefung:

Was verbindet die ausgewählten Gedichte aus dem 7. – 10. Jahrhundert (Tang-Dynastie) und dem turbulenten 20. Jahrhundert? Es ist die erstaunliche Nähe zur europäischen Literatur des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit – Themen, Metaphorik und gedankliche Pointierung zum Schluss der Gedichte. Der Schwerpunkt liegt bei den frühen Gedichten auf der subjektiv erfahrenen Welt (Li Bai), bei den Gedichten der Moderne wird stärker der unaufhebbare existentialistische Konflikt des Einzelnen in einer gebrochenen Welt gesehen (Yang Lian) oder die Rettung ins Kollektive (Mao Zedong). Die Dichter der Moderne träumen wie die alten Meister in Bildern der Sorge und Angst und der Hoffnung. Weiterhin bleiben Naturmetaphern wichtig. Melancholie und Resignation der Tang-Zeit reicht bis in unsere Gegenwart (Yang Lian), nun bewusster. Das gilt auch für die Fiktion oder Ideologie einer in der Solidarität aller Menschen aufgehenden Gesellschaft bei Mao Zedong, dessen Naturbilder politische Dimensionen eröffnen. Es ist der romantische Ton der Sehnsucht, der uns heute noch aus manchen der alten Gedichte anweht, teils sanft-ironisch gebrochen, es sind die meist knapp gezeichneten Lebenssituationen, die große Gedankenräume erzeugen – auch in der neueren Lyrik Chinas, in der allerdings surrealistische Bilder und zerebrale Reflexionen stärker werden und sich mit europäischen berühren. Während in der alten Literatur Legenden, Mythen und vergangene Geschichte oft bedeutend sind, um die Gedichte angemessen zu verstehen, werden Gegenwartsgeschichte und politische Theorie in der neueren Literatur immer wichtiger.

Zugunsten der deutschen Übersetzung und Übereinstimmung mit dem chinesischen Original habe ich keine Reime forciert oder gar die altchinesische geregelte Ordnung der Gedichte übernommen; das ist schon gar nicht machbar, was die Folge der Töne angeht. Ich wollte maßvoll, nie zwanghaft oder zwingend, ein Metrum finden, das zum Gedicht passt.

Ich ging bei der Übersetzung der Gedichte so vor: Zeichen und Bedeutungen überprüfte ich in verschiedenen Wörterbüchern des sinologischen Seminars der  Bonner Universität, ich verwendete Online-Wörterbücher und sah mir die bereits vorhandenen deutschen Übersetzungen an. Dann schrieb ich meine erste Interlinearversion.

Ich achte die Ideen und Formen der alten Meister. Mit diesem Gefühl und Bewusstsein begegnete ich den chinesischen Dichtern.

Ich habe Yang Lian persönlich in Bonn und in Wolfgang Kubins Übersetzungen schätzen gelernt.

Ich las in Kubins großartiger Geschichte der chinesischen Literatur über Li Bai, Du Fu, die anderen Dichter und Dichterinnen, über die Zeit und die literarische Epoche, deren Gedichte ich übersetzte.

Ich erkannte deutlicher als zuvor, wie schön Klabund die altchinesische Lyrik nachempfand, obwohl er nicht viel von der chinesischen Sprache wusste und oft sehr frei mit den Gedichten umging und das ein oder andere chinesische Gedicht erfand. (Nicht für alle Übersetzungen lässt sich ein Original finden.) Klabund provozierte Robert Neumann zu seiner grandiosen Parodie in seinem Band „Mit fremden Federn“ (1927), über die ich schon als Jugendlicher lauthals lachen musste. Da wird ein altchinesisches Gedicht entlarvt als die Rückübersetzung der Übersetzung eines chinesischen Schülers, der „Konrad, sprach die Frau Mama“ aus Hoffmanns „Struwwelpeter“ ins Chinesische übertragen hatte. Robert Neumann sezierte hier kongenial die Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Chinesischen. Ich bin mir nicht sicher, wieviel Ahnung er von der chinesischen Sprache und ihren Zeichen hatte, jedenfalls traf er ins Schwarze und deutete zugleich an, dass Klabund in der chinesischen Lyrik der Tang-Zeit Nähe zur expressionistischen Lyrik spürte, gewürzt mit dem Geist des Fin de Siècle und Motiven der deutschen Barockdichtung.

Wie schwierig das Übersetzen aus dem Chinesischen ist, wurde mir schon bei dem kleinen Gedicht 静夜思 (Nachtgedanken/Nocturne) von Li Bai klar. Dass Übersetzen immer zugleich Übertragen, also neuschaffendes Nachschaffen ist, wird beim Übersetzen jedem evident – und so gesehen sind Klabunds oft sehr gewagte Geschöpfe keine puren Chinoiserien.

Übersetzen ist ein Grattanz, den man ins dialektische Gleichgewicht bringen muss, um sich nicht zu verirren in der Wüste der Akribie oder in einem Amazonas leerer Phantasie.

 

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Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie und aus dem 20. Jahrhundert
26 Gedichte chinesisch/deutsch übersetzt von Ulrich Bergmann
26 Bilder von Doris Distelmaier-Haas
Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin
152 Seiten, Deutsch und Chinesisch, kleine Ölbilder in Weiß auf schwarzer Grundierung, Lesebändchen, geb.

Bacopa-Verlag, 2015