Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.
Max Frisch
Die meisten Menschen beherrschen ihre Muttersprache halbwegs, dazu eine Fremdsprache. Drei oder vier andere Dialekte verstehen sie vielleicht ansatzweise. Wie viele Sprachen man für einen lyrischen Über- und Durchblick lernen muß – vorzugsweise europäische – läßt sich bei Joanna Lisiak lesen. Sie erlernte die deutsche Sprache im Alter von 10 Jahren, als sie 1981 in die Schweiz kam. Mit den gegebenen Mitteln und mit bescheidenem Vokabular entstand schon wenige Monate später ihr erstes Gedicht „Der Plastiksack“, worin sie die Faszination für den Plastiksack (in Polen) bzw. das langsame Nachlassen der Begeisterung (in der Schweiz) thematisierte.
Das Potenzial erkenne ich nicht bei mir, sondern in der Umgebung, in der ich schreibe. Also jenen Momenten, wo Ideen und Einfälle auf mich einstürzen und ich zwischen Distanz und absoluter Intimität intensiv daran bin, diese Ideen in Form zu bringen, sie mit den mir zu diesem Augenblick gegebenen Mitteln umzusetzen und am Ende vielleicht positiv überrascht bin, weil ich einen Mehrwert entdecke, etwas Unvorhergesehenes passiert ist.
Joanna Lisiak
Das lyrische Erwachen, gepaart mit dem Bewußtsein über ihre Liebe zur Sprache stellten sich bei Joanna Lisiak fast zwangsläufig ein. Der sprachlich-kulturelle Umstand ist wahrscheinlich verantwortlich dafür, daß diese Autorin um den Wert von Handwerk und Sprache weiß und virtuos, sprachspielerisch, mitunter erfinderisch mit der Sprache umzugehen versteht, jedoch keineswegs eine linguistische Bastlerin ist. Auch das akkurate Hinschauen selbst auf vordergründig gewöhnliche Vorgänge und Gegebenheiten, vermag die Autorin immer wieder auf ungewöhnliche Weise in neues Licht zu rücken und ihr eigenes Staunen darüber literarisch kundzutun. Bei all dieser funkelnden Vielflächigkeit bleiben Lisiaks Texte stets überlegt inszeniert und folgen einer Rhetorik, die einzelne Beobachtungen zur Realität und ihre Idiosynkrasien nur so lange ins Rampenlicht stellt, wie es braucht, um realistisch klare Vorstellungen zu erzeugen, die ins Subjektive kippen. Ihr gelingt die Skelettierung eines Moments und sie bedient damit drei der literarischen Genres. Zwar bewegt sich die Autorin literarisch vorwiegend in der Lyrik und Kurz- bzw. Kürzestprosa, verfaßt aber auch dramatische Texte, darunter viele kürzere Szenen und Mikrodramen, schreibt und nimmt zudem Hörspiele auf. Daneben schreibt sie Essays sowie Kolumnen. Sprache ist ihr Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit fassen läßt.
Die großen Verlage werden noch größer, mittlere verschwinden nach und nach, die kleinen Häuser geben auf oder haben es enorm schwer zu überleben. Es ist eine Zeit der Idealisten angebrochen. Eine Zeit von Enthusiasten, die auf kleiner Flamme kochen müssen, doch die sich nicht beirren lassen dürfen. Sowohl VerlegerInnen als auch AutorInnen haben heute jedoch den Vorteil, sich via Internet relativ einfach und schnell zu vernetzen. Wenn sich Idealisten mit Kreativen zusammentun, ist es ihre Pflicht, gemeinsam erfinderisch und experimentierfreudig zu sein und zu improvisieren.
Joanna Lisiak
Gedankenstriche lautete der Titel einer Abfolge von Prosaminiaturen, die KUNO in 2016 regelmäßig präsentiert. Gäbe es eine Geographie lyrischer Formen, dann läge sie wahrscheinlich zwischen Haiku, Tanka und Monostichon, neudeutsch Twitteratur. Aufgrund seiner extremen Kürze werden diese Gattungen vor allem für Formen verwendet, die aus Verknappung und Verdichtung ihren ästhetischen Reiz ziehen, also literarische Kleinstformen wie Gnome, Epigramm, Sinnspruch, Sprichwort, Sentenz und Ähnliches. Joanna Lisiaks „Gedankenstriche“ zeigen, wie das Leben so spielt, sie spiegeln einen Jahrmarkt der Eitelkeiten, eine fortgeschriebene Comédie Humaine, die durch den inszenierten Zufall wirklich Leben bekommt. Ihre Prosaminiaturen sind ein Akt des Widerstands gegen das Vergessen und Verschwinden, gegen Entfremdung und das langsame Sterben an allgemeiner Ratlosigkeit. Mitunter fließen auch Typologien zur Literatur als poetologische Selbstreflexion ein. Die Autorin unterwirft sich mit ihrer Twitteratur keinen strengen Regeln, ihre Kürzestprosa besteht oft aus wenigen Worten, es sind Momentaufnahmen, eine per Wörterzoom herangeholte Einzelheit oder Beobachtung. Diese Einfachheit, die zum Kern der Sache vordringt, eine Idee komprimiert, verdichtet Lisiak zu einer Poesie des Alltags, sie mischt sich ein, kommentiert, stellt Fragen, unaufdringlich und schlicht, aber durchaus scharfzüngig. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare. Es sind Texte, denen jede Klage über die Vergangenheit fremd sind, sie zeigen das gerade dort, wo es am wichtigsten ist: im Alltag. Und sie zeigen das, was dabei herauskommt, in aller Schönheit und Faszination.
KUNO verleiht Joanna Lisiak für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016.
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Gedankenstriche von Joanna Lisiak, Kulturnotizen 2016
Weiterführend →
Lesen Sie auch das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay. Gleichfalls empfehlenswert ist der Essay von Joanna Lisiak über die menschliche Stimme.