Über die Bedeutungsdimensionen der kurzen Prosa

Cover des Buches ‚Auf silikonweichen Pfoten‘

Von manchen Autoren wird wortreich vieles endlos wiederholt oder variiert. Francisca Ricinski ist die Ausnahme von dieser Regel. Auf großes Echo stieß sie mit Auf silikonweichen Pfoten. Ihr Band Als käme noch jemand widmet sich in intensiven und ergreifenden literarischen Bekundungen dem Prozess des Verfalls. Dieser Prosa haftet einerseits etwas Flüchtiges, Momentanes an, andererseits ist sie melancholisch und bleischwer. Ihre Prosa lebt von der Kraft der Assoziation, von Umkehrungen und paradoxen Figuren. Die Bedeutungen verwandeln sich fortwährend, sie haften nicht an den Namen. Es kommt selten vor, daß sich eine Dichterin in aller Direktheit den wortwörtlich elementaren Themen widmen. Es geht Ricinski nicht um Prosa im klassischen Sinn, es geht darum poetische Formen als Reflexionsmedium fern seiner glitzernden Oberfläche begreiflich zu machen. Natürlich kann dabei nicht gänzlich auf etwas Pathos verzichtet werden. Die sozialen Gegensätze, der Kampf um Freiheit und die Anerkennung der Kulturen, hat Spuren in dieser Poesie hinterlassen.

Kurzprosa ist ein Laboratorium, in dem Dichter versuchen, das zu integrieren, was sie, wenn sie vorurteilslos hinschauen, in der europäischen Wirklichkeit vorfinden. Bei Ricinski sind die Grenzen zwischen Poesie und Prosa fließend: Es ist eine Melange aus Erinnerung, Beschreibung und poetologischer Reflexion, in der sich das eine vom anderen gar nicht trennen läßt. Mit stilistischem Gespür mischt sie Genres, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Sie versteht es, die große Geschichte mit der kleinen zu verschränken, das Persönliche ins Allgemeine laufen oder besser: stürzen zu lassen. Wenige Skizzen reichen ihr, ihren Protagonisten ein persönliches Antlitz zu geben. Sie hat eine Sprache, die immer mit Augenzwinkern erzählt. Über alldem und um all das herum bilden Humor und Traurigkeit eine Dichotomie.

Bestechend in ihrer Andersartigkeit und von hohem ästhetischem Reiz sind die kurzen Geschichten und poetischen Splitter in dem Band Auf silikonweichen Pfoten. Erzählungsbände fordern vom Leser mehr Konzentration als Romane: immer neue Namen, immer neue Konflikte. Auf den ersten Blick wirken diese Texte wie kleine Knäuel. Die Gedanken und Sätze laufen hier in verschiedene Richtungen, scheinen weder Anfang noch Ende zu haben. Das alles ist mehr als erträglich, weil Ricinski dafür eine Sprache hat, die sich auf nichts ausschließlich einläßt, sondern immer mit Augenzwinkern erzählt. Bisweilen machen ihre Sätze Faxen, springen von hier nach dort, wieder zurück und auch mal absichtsvoll daneben. Über feine Wortschleifen und Bedeutungsverschiebungen verschlingt diese Rede sich immerzu neu – und läuft doch voran. Ein wundersames Buch. Und sehr anders. Handlung gibt es fast keine, dafür handelt es von umso gewichtigeren Dingen, vom Leben zum Beispiel und vom Tod und den Toten und davon, was das alles miteinander zu tun hat.

Diese Autorin stellt die alten Grundfragen, daran, was Kurzprosa will: Als Ethik des unbedingten Sollens ignoriert sie die Eingebundenheit der einzelnen Subjekte in die sozialen Verhältnisse und konfrontiert sie mit idealen Forderungen, deren grundsätzliche Erfüllbarkeit sie einfach voraussetzt. Als Ethik des guten Lebens ignoriert sie die Frage des einzelnen, was für einer er sein will, indem sie ihn mit dem allgemeinen Begriff einer vernünftigen Lebensform abspeist. Ricinskis Handschrift ist eine Kennung, ein Ausweis, ein Biorhythmus; sehr frei nach Walter Benjamin: Man möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen – bevor es andere tun. Ein Stoßseufzer post festum, sicherlich. Dennoch möge er gehört werden.

Wir verleihen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis.

 

 

***

Auf silikonweichen Pfoten. Wundprotokolle, Pop Verlag, Ludwigsburg 2005.

Zug ohne Räder / Trenul fara roti, lyrische Prosa, rumänisch und deutsch. Nachwort von Theo Breuer, Editura Fundatiei Culturale Poezia, Iasi/Rumänien 2008.

Als käme noch jemand. Lyrische Prosa und Erzählcollagen, Nachwort von Andreas Noga, Pop Verlag, Ludwigsburg 2013.

Post navigation