Das Tier

Eines Tages saß ein wundersames Tier an der Scheibe unseres Wohnzimmerfensters; ich weiß nicht, wie lange es schon dort gesessen hatte, als wir es entdeckten. Max nahm es zuerst wahr: „Schau mal, Mama, wie schön!“, rief er aus. Im ersten Moment dachte ich, es handele sich um einen verirrten Papierdrachen, denn das Wesen leuchtete unnatürlich, zwischen stumpfen Regentropfenflecken, von einer flammenden Spätsommersonne durchschienen. Aber dann sah ich, wie ein ruhiger Atem und ein etwas schnellerer Herzschlag den kleinen Körper leicht erbeben ließen. Diese sich übereinanderlagernden Rhythmen waren mir Beweis genug, dass es sich um ein Lebewesen handelte. Doch ich hatte ein solches noch nie zuvor gesehen: sein länglicher Rumpf war hellblau mit gelben Punkten, es hatte kleine Flügel von silbrigem Grau, mit kaum sichtbaren, filigranen Beinchen hielt es sich am Glas fest, doch das größte an ihm war ein Paar rosafarbene Hände, die die Form von langgezogenen Ahornblättern hatten; es hielt sie wie Schutzschilde oder Waffen vor sich und verdeckte damit sein Gesicht.

„Habt ihr so etwas schonmal gesehen?“ fragte ich meine Schwiegereltern, die zu Besuch waren und uns gegenüber am Tisch saßen. Mein Schwiegervater stieß bloß ein kurzes Lachen aus und stach ein weiteres Stück von seinem Obstkuchen ab. Er verwandte seine ganze Konzentration darauf, das turmhohe Stück mit dem bröseligen Boden unversehrt in seinen Mund zu befördern. Meine Schwiegermutter hingegen war sehr blass geworden und musste sich erst räuspern, bevor sie wieder reden konnte:

„Es gibt verschiedene Arten dieser Tiere – diese Sorte ist mit ziemlicher Sicherheit todbringend. Man erkennt es an den Widerhaken am Ende ihrer Finger. Schaut genau hin!“ Sie war aufgestanden während dieser Rede, hatte das Tier dabei keine Sekunde aus den Augen gelassen und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. „Wir sollten uns unauffällig und leise fortbewegen, damit es nicht auf uns aufmerksam wird“, fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu und schlich im Zeitlupentempo Richtung Tür. „Aber Oma Edith. Hab keine Angst, es sieht doch so lustig aus.“ „Nein, nein, Max. Wir sind wirklich in Gefahr, glaub mir. Vor allem sitzt es ja innen am Fenster, sonst könnten wir einfach das Fenster schließen, um uns vor ihm zu schützen.“

Heinz schien ihren Ausführungen keinerlei Bedeutung beizumessen und schenkte sich Tee nach. Zwar bezweifelte auch ich, dass meine Schwiegermutter recht hatte, doch mir war das Tier nicht geheuer, derart befremdlich war seine Erscheinung: für ein Insekt war es zu groß, genausowenig war es ein Vogel; die winzigen Widerhaken an seinen Händen blitzten ab und zu im Sonnenlicht auf, als wären sie aus Metall.

Das Tier begann auf einmal, sich zu bewegen, es krabbelte am Fenster, welches auf Kipp stand, nach oben und schien nach draußen zu wollen. Max lachte nicht nur vergnügt, sondern ging auf das Wesen zu. Mich ergriff Panik. Vielleicht wäre das Tier in Kürze wieder nach draußen geflogen, mit ziemlicher Sicherheit sogar, aber würde Max ihm zuvorkommen und würde es ihn dann angreifen?

Schnell war ich zwischen meinem Sohn und dem Fenster, das Tier flatterte auf – sein Flügelschlag klang matt wie das Zerreißen von Spinnenweben. Anstatt mich anzugreifen, flog es durch die Wohnzimmertür, die halboffen stand und nach derem Griff Edith soeben ihre Hand ausstreckte. Wie vom Blitz getroffen, zog sie nun ihre Hand zurück. Ich eilte zu ihr und starrte in den dunklen Flur – ein schwarzer Streifen, in dem jetzt irgendwo das Tier sein musste. Ich schloss die Tür und lehnte mich mit dem Rücken gegen den kalten Lack. Edith war erstarrt, Heinz musste aufstoßen und wischte sich mit der Serviette über den fettigen Mund, Max schließlich hüpfte unruhig vor mir auf und ab. „Mammi, Mammi!“ rief er, mit der ihm eigenen, penetranten Betonung auf i, die ein Zeichen dafür war, dass er es nicht zulassen würde, wenn man seiner Neugierde jetzt irgendwelche Schranken auferlegte.

In diesem Moment kam Robert nachhause. Wir alle hörten das sanfte Einschnappen der Wohnungstür, die er möglichst leise zuzumachen pflegte; er wollte Max und mich immer überraschen, in dem, was wir gerade taten, schaffte es allerdings selten. Meist hörte Max, der einen besonderen Sinn für das Nachhausekommen des häufig abwesenden Vaters hatte, als erster das kleine Geräusch.

Max hatte nun also ein doppeltes Interesse, so schnell wie möglich aus dem Wohnzimmer zu kommen. Ich versperrte ihm aber immer noch den Weg, hin- und hergerissen zwischen meinen Gefühlen: Ich wollte Max beschützen und Robert warnen, gleichzeitig mich aber vor meinen Schwiegereltern, die nicht viel auf mich hielten, nicht blamieren. Aus Ediths Gesicht war, als sie ihren Sohn kommen hörte, und ihn nun in unmittelbarer Nähe zu dem tödlichen Wesen wusste, vollends die Farbe gewichen. „Robert, pass auf, ein…“, kreischte sie, aber der Rest ihrer Worte ging in dem unerträglichen Heulgebrüll unter, das Max nun anstimmte, indem er sich, wild vor Wut vor meinen Füßen auf den Boden schmiss. Heinz berührte das nur insofern, als dass er satt und müde war und endlich nachhause wollte.

Wenn ich an Max etwas nicht ertragen konnte, dann waren das diese Wutanfälle, die für mich an Körperverletzung grenzten. Ich war kurz davor, ihm den Weg freizugeben mit den Worten: „Dann geh doch und sieh, was du davon hast!“ Edith änderte ihren Tonfall und wandte sich an mich mit den hasserfüllten Worten: „Du hast ihn komplett verzogen! Mein armer Robert. Wenn der in diesem Haushalt mehr zu sagen hätte…“ Nun reichte es selbst Heinz. „Du immer mit deinen absurden Ängsten, Edith!“ Die beiden wissen gar nichts!, dachte ich. Robert war ja nicht nur deswegen so viel weg, weil er Geld verdiente, sondern weil er seinen Alkoholkonsum organisieren musste. Vermutlich wollte er jetzt, da er mitbekommen hatte, dass seine Eltern da waren, erst noch ein paar auf dem Heimweg gekaufte Dosen verschwinden lassen.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann war es Heinz, der die Tür aufmachte, alle sammelten sich hinter seinem massigen Rücken und spähten in den Flur…

Dort war… kein Tier, kein Mensch. Nur die Tür zum Keller stand offen und aus dem Keller drang lautes Poltern. Robert kam aus dem Keller, Lackschuh, Jackett, allein an seinen Haaren, die länger nicht geschnitten waren und den Augenringen, konnte man sehen, dass sein akkurates Äußeres nur ein Teil seiner Persönlichkeit war; er war gereizt. Er hatte einen Besen in der Hand. „Was hast du denn vor?“ „Na, was wohl.“ Er schaltete das Flurlicht an und begann zu fegen. „Ich öffnete die Tür und mir kam Laub entgegen!“ Robert hatte einen Sauberkeitstick. Wenn er zu viel getrunken hatte und der Notarzt schon unterwegs war, bügelte er meist noch ein, zwei Hemden, um sie ins Krankenhaus mitzunehmen. „Diese zwei Blätter!“ Opa Heinz machte eine abwertende Handbewegung und griff nach seiner Jacke, die in der Garderobe hing. Und da lagen wirklich nur zwei vertrocknete Blätter, doch meine Schwiegermutter fixierte sie voller Angst.

Das Laub hatte einen derartigen Zustand von Verfall erlangt, dass man annehmen musste, es wäre bereits vor Jahren von seinem Baum gefallen, hätte dann zweimal im Dickicht einer Hecke überwintert und sei nun, als Gärtner und Sturm sich gleichzeitig über die Hecke hermachten, aufgewirbelt und ins Haus geweht worden. Dabei hatten sich sämtliche Naturgewalten nacheinander in den Pflanzenteilen verewigt: das Alter hatte sie verfärbt, der Regen gewellt, der Frost hatte sie verhärtet, die Trockenheit vernebelt, Tiere hatten sie durchlöchert, die Sonne durchleuchtet. Das eine Blatt hatte sich sogar gekrümmt und sah aus wie die Hülle von etwas, was man erst noch erfinden musste. Nun schnappte es sich der Wind, und über das andere schritt Opa Heinz, halb absichtlich, halb unabsichtlich; es gab ein knirschendes Geräusch, als würde eine Katze zubeißen. Danach sah man auf dem rauen Fliesenfußboden schon gar nicht mehr, was es einst gewesen war.

***

aus: Vom Zustand der Welt um 4 Uhr 35 von Christine Kappe. Mit 6 Bildern von Irene Klaffke. Pop-Verlag, Ludwigsburg 2016

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