Social Beat (Reprise)

 

Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir uns an die Allgegenwart und den alltäglichen Gebrauch von Medien gewöhnt, die es vor – sagen wir etwas willkürlich – fünfzehn bis zwanzig Jahren noch nicht gab. Heute schlägt man keine Zeitung mehr auf, ohne dass einem der Begriff der Social Media begegnet, sei es unter politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder künstlerischen Aspekten – sofern man sie überhaupt noch aufschlägt und nicht gleich die Internetseite der jeweiligen Publikation aufruft.

Eine andere, mehr lokale als globale, aber gleichwohl landesweit ausstrahlende Institution mit einem ähnlich harmlos-niedrigschwelligen Namen feierte unlängst in Berlin ihr zwanzigjähriges Bestehen: das Open Mike. Veranstalter ist die Literaturwerkstatt Berlin, zu den Siegern zählten im Lauf der Jahre unter anderen Karen Duve, Kirsten Fuchs, Tobias Hülswitt, Björn Kuhligk, Markus Orths und Jochen Schmidt.

Nun sind zwanzig Jahre angesichts der Geschwindigkeit, mit der technische Neuerungen sich in unser Leben insinuieren, eine erhebliche Zeit. Das Jubiläum der viel beachteten Lesebühne und der zur Zeit in vieler Munde befindliche Begriff seien zum Anlass genommen, an eine vorübergehende Erscheinung im deutschen Literaturbetrieb zu erinnern, die die wohl letzte aus sich selbstheraus organisierte Initiative zur weiträumigen Vernetzung deutscher Autoren vor der flächendeckenden Ausbreitung elektronischer Medien und digitaler Kommunikation in Mitteleuropa war und als solche den Weg für Plattformen wie das Open Mike und die Poetry Slam-Szene bereitet hat.

Diese Bewegung, die sich selbst den im Rückblick frappierend prophetischen Namen Social Beat gab, ging aus zwei kurz auf einander folgenden Literaturfestivals hervor (5. bis 8. August 1993 und 21. bis 25. September 1994), in deren Umfeld sich erste Vertreter sammelten und über gemeinsame Ziele austauschten. Charakteristisch waren sowohl der Ort –Berlin, in spürbarem Nachwenderausch–als auch die Tatsache, dass die eigentlichen Veranstalter beide aus der westdeutschen Provinz zugezogene Neuberliner waren. Jörg André Dahlmeyer (Jg. 1966) hatte es aus Braunschweig dorthin verschlagen, Thomas Nöske (Jg. 1969) aus Göttingen. Die Vorfluter des Social Beat waren der deutschsprachige Underground der 1980er Jahre und seine Institutionen, allen voran die Mainzer Minipressenmesse als literarische Biennale und zentraler Treffpunkt diverser alter und neuer Szenen und das Literarische Informationszentrum in Bottrop, als Versandbuchhandlung eine langjährige Institution, deren Betreiber Josef ‚Biby‘ Wintjes (1947-1995) der bis zur Selbstaufgabe unermüdliche Herausgeber erst des Ulcus Molle, später des nachmalig von Bruno Runzheimer weitergeführten Impressum war. – Wenn es eine menschliche Konstante gab, die den Social Beat mit vorangegangenen Gegenkulturen verband, so war es der 1946 in Chemnitz als Paul Gerhard Hübsch geborene, 2011 in Frankfurt am Main verstorbene Hadayatullah Hübsch. Mit der Versammlung alter und neuer Undergroundliteraten unter dem Etikett 60/90(ein Verweis auf die beiden Jahrzehnte, zwischen denen eine Brücke geschlagen werden sollte –und eine vage Reminiszenz an die Gruppe 47) hatte Hübsch das Startzeichen für eine erste lose Formierung gegeben. Einige der Jüngeren wählten sich kurz darauf die Eigenbezeichnung Social Beat.

Bei Hübsch, wie auch bei einem weiteren im Social Beat in Erscheinung tretenden Repräsentanten einer früheren Gegenkultur, Theo Köppen(Jg. 1953), war die Nähe der Literatur zur Musik angelegt, welche sich in verwandelter Form bis in die typographische Ästhetik Social Beat-naher Publikationen niederschlagen sollte. In Hübschs Dichtung ist die populäre Musik als treibende Kraft in Sprache und Rhythmus unüberhörbar, sein Vortragsstil hatte die aufreibende Selbstentäußerung von (Sprech-)Gesang; der Maler und Dichter Köppen war mehrere Jahre lang Texter und Sänger der Swinging Mescaleros und überdies regelmäßig auf der Head Farm des Musikkritikers und Dichters Helmut Salzinger (der, wie auch Hübsch, nach einem Debüt in bürgerlicher Presse und Verlagswesen diesen Foren den Rücken zugewandt hatte und auf einem eigenen Kopiergerät die Zeitschrift FALK herausgab) zu Gast. Der Social Beat, initiiert von Leuten, die mit den Do-It-Yourself-Idealen des Punk großgeworden waren, übernahm diese Unvoreingenommenheit und entwickelte sie unter den Vorzeichen der 1990er Jahre weiter.

Der Social Beat war eine erklärtermaßen non-bis anti-akademische Bewegung, die keine Berührung mit den Germanistik-Seminaren ihrer Epoche hatte oder suchte. Die perpetuierten literarischen Idole waren neben Jörg Fauser, dessen tragischer Unfalltod (1987) in die Frühphase des Social Beat fiel, vor allem französische und russische poètes maudits wie Louis-Ferdinand Céline, Jean Genet und Edward Limonov sowie der aus Andernach am Rhein gebürtige US-Amerikaner Charles Bukowski oder – der ehemalige Sänger der US-Punkband Black Flag, Henry Rollins. Diese Präferenz für die US-Subkultur lenkte die Aufmerksamkeit auch frühzeitig auf ein Phänomen, das in den 1990ern aus den USA herüberzusickern begann: unter dem Namen Spoken Word oder Poetry Slam veranstaltete öffentliche und überaus publikumswirksame Lesungen von Gedichten oder Kurzprosa. Es war der Social Beat, der dieser Welle, die ihrerseits über Anne Waldmans Lesereihen in der New Yorker St. Mark’s Church in die Jazzkeller der Beats und wahrscheinlich auch noch weiter zurückreichte, im deutschen Sprachraum Tür und Tor öffnete – auch wenn es dann der nachfolgenden Pop-Fraktion zufiel, sie bis zur literarischen Neige auszuschöpfen. Was jedoch den Social Beat von seinen unmittelbaren Vorgängern, der Gegenkultur der 1960er Jahre und dem Punk der 1970/80er, der sich immerhin noch als Blank Generation begriffen hatte, unterschied, war seine unverhüllt narzisstische Grundhaltung, für die unter anderem bezeichnend war, dass das Gründungsmoment des Social Beat kein nach außen hin wirksames Manifest oder Programm war, sondern in erster Linie die Absicht, den vielen vorhandenen regionalen Gruppen einen den etablierten Medien leicht zu vermittelnden und eingängigen Sammelnamen zu verpassen (zu dem häufiger wiederkehrenden Motto Töte den Affen vgl. Peter Gabriel, Shock The Monkey). Unter Bezugnahme auf eine immerhin vorhandene, aber nie näher definierte und letztlich apolitische ‚soziale‘ Grundeinstellung und den Takt-oder Herzschlag (mehr als die Niedergeschlagenheit oder Glückseligkeit der klassischen Beats) führte dies zu der politisch und weltanschaulich unklaren, aber sehr medienkompatiblen Selbstbezeichnung: Social Beat. Das später kreierte Etikett ALO(Außerliterarische Opposition)blieb eine Anspielung der meistenteils in den1970er Jahren Aufgewachsenen auf die gesellschaftlich folgenreichere Außerparlamentarische Opposition (APO).

Ging es den einzelnen Teilnehmern zunächst um das jugendliche Ideal des gemeinsamen Reisens und Feierns, so zielte die einzig auszumachende, aber einigende Bestrebung doch nicht weiter, als auf dem Umweg über eigene Zeitschriften, Verlage und Versandhandel den etablierten ‚Betrieb‘ zu unterlaufen und letztendlich auszuhebeln. Wurden die Mängel der Mehrheitsgesellschaft einerseits, wie seit den Zeiten der Flower Power üblich, festgestellt bzw. mehr oder weniger zornig oder angewidert beklagt, so fehlte dem Social Beat andererseits, wie zuvor auch schon dem Punk, sowohl das Potenzial zu schwärmerischer Verklärung, zu Vision und Überschwang, wie auch jegliche revolutionäre Ambition: der bierbedingte, also legale Rausch reichte nicht weiter als bis zum nächsten Morgen, zur nächsten Autobahnabfahrt, zum nächsten Termin beim Arbeitsamt (wie die Bundesagentur für Arbeit damals schlicht hieß). Eine Vision von etwas Anderem oder Besserem konnte in diesen engen Horizonten ebenso wenig gedeihen wie in der Mehrheitsgesellschaft der wiedervereinigten 1990er. Es galt, die Bastion des bürgerlichen Literaturwesens quasi im Sturm zu erobern –oder, und darauf beschränkte sich das romantische Moment der bekennenden underdogs, wirkungslos zu verglühen.

Es war die Zeit des analogen cut & paste, das in die Kopierläden getragen und dort für postalischen Versand oder Verkauf über den Ladentisch vervielfältigt wurde. Aus den neuen Bundesländern kam eine sehr lebendige Kultur der Mail Art und der auf Handpressen vervielfältigen Drucke hinzu (in Abwesenheit von Kopierläden und weil Auflagen unter 100 Ex. keiner staatlichen Zensur unterlegen hatten). Dieser gebrauchsfreundlichen Technik verdankten nicht nur die zahllosen, zumeist kleinen Zeitschriften des Social Beat ihre Existenz, die nicht zufällig in Anlehnung an Musikmagazine auch zines heißen konnten (fanzine, litzine, egozine), sondern auch das zentrale ‚Organ‘ der Szene, die Wanze. Rundbrief und Flüstertüte des inneren Zirkels zugleich, verbreitete die Wanze Presseausschnitte, Grafiken, Ankündigungen und Besprechungen von Neuerscheinungen und Einsendungsaufrufe sowie den Adressverteiler, der Austausch und Zusammenhalt erleichterte. In Verbindung mit den zahlreichen Leseveranstaltungen landauf, landab erreichte der körperlose und dezentrale Social Beat auf diese Weise zeitweilig einen beachtlichen Grad analoger – Vernetzung. Waren viele Autoren zugleich Herausgeber einer Zeitschrift und/oder Veranstalter von Lesungen, Lesereihen oder Literaturfestivals, so war doch der Wechsel in das handwerklich wie ökonomisch anspruchsvollere Fach des Buchverlegers die Ausnahme, die nur wenige auf Dauer bewerkstelligten: der gelernte Drucker und spätere Buchhändler Oliver Bopp (Inhaber des Ariel Verlags, der den Isabel Rox Verlag nach dessen beiden grundlegenden Anthologien übernahm) und die Brüder Michael und Joachim Schönauer, in deren Verlag Killroy Media die drei–maßgeblichen und schon vom Titel her richtungsweisenden–Social Beat Slam! Poetry-Anthologien erschienen.

Den Anthologien kam auch im Social Beat eine besondere Rolle zu: da die Verlage über keinen tragfähigen Werbeetat oder eine professionelle Vertriebsstruktur verfügen konnten, sicherte eine große Anzahl an veröffentlichten Autoren eine weitere Verbreitung und verringerte das wirtschaftliche Risiko. Bücher waren zudem eher in herkömmlichen Buchhandlungen unterzubringen als fotokopierte Zeitschriften oder Hefte. Überdies erlaubte diese Form, ein breites Spektrum von Dichtung, Kurzprosa und Grafik zu präsentieren, ohne dass der Verlag einen einzelnen Autor hätte auswählen, bevorzugen und hervorheben müssen – ein riskanter Schritt in einer Gruppe, deren sich formierendes Selbstverständnis im

Wesentlichen von der angenommenen Zusammengehörigkeit weitgehend Gleicher getragen wurde. Zu bemerken bleibt, dass aus den Reihen des Social Beat kein bedeutender Roman, kein eigenes Kultbuch hervorging.

So waren es Anthologien, die die Beteiligten des Social Beat erstmalig dauerhafter versammelten, sie über die unmittelbare Szene hinaus sichtbar machten und die als erste von der kommerziellen Leitkultur aufgegriffen wurden. Neben den bei Isabel Rox bzw. Killroy erschienenen Anthologien war dies als erste Kaltland Beat. Neuedeutsche Szene (1999), deren Autorenverzeichnis innerhalb der Szene als räumlich-zeitliches Who Is Who des Social Beat Anerkennung fand. Herausgeber Boris Kerenski startete um die gleiche Zeit die programmatisch betitelte, weil zunehmende Richtungslosigkeit verratende Mail Art-Aktion „Was ist Social Beat? (1998). Hatte sich mit Social Beat D(1995) der anstehende Wechsel in etablierte Verlage noch angekündigt, vollzog ihn schon ein Jahr darauf Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion(1996) und markierte zugleich auch das Ende des ursprünglichen, in seinen Ausdrucksformen weniger marktgängigen Social Beat. Den endgültigen Schlusspunkt setzte Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reisedurch die deutschsprachige Popliteratur (2001), indem der Zirkelschluss von einem US-amerikanisch geprägten Underground – siehe Brinkmann und Rygullas Transfertätigkeit als Anthologisten von Acid – Neue amerikanische Szene(1969) – bis zur dato jüngsten Welle – Spoken Word, Slam Poetry und Popliteratur – explizit vollzogen und bibliographisch wie auch durch die beiliegende Klangmuster-CD belegt wurde.

Ein ungewöhnlicherweise ausdrücklich nicht auf Öffentlichkeitswirkung angelegtes Klausurtreffen der Szene zu Gesprächen in Boxbrunn im Odenwald sollte im Frühjahr 1996 der Positionsbestimmung und Neuorientierung dienen, konnte jedoch der nötigen allgemeinen Wiederbelebung keine Impulse geben und blieb ohne sichtbares Ergebnis oder weitere Nachwirkungen. – Die Dokumentation setzte unterdessen sofort ein, wie sich an diversen Diplomarbeiten nicht nur aus Social Beat-nahen Reihen ablesen lässt.

Während die höhere Literatur von der Pop-Fraktion vertreten wurde, liegt die nachhaltige Bedeutung des Social Beat in seiner Betonung der unmittelbaren, mündlichen Literaturpraxis. Lesungen – teils improvisiert, oft mit Musik – waren Versuchslabors für lebendigen Sprachwandel und für eine Sprache, die in direktem Zusammenspiel mit dem Publikum wandelbar bleibt, und wurden allmählich professionelle Bühnenvorstellungen im Kleinformat, aber von hoher Kunstfertigkeit. Dass diese Strömung kein kompaktes Werk wie einen Roman hervorbrachte, erscheint unter diesem Gesichtspunkt nur als folgerichtig.

 

 

 

Josef „Biby“ Wintjes, Photo: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.

 

 

KUNO dankt Axel Klingenberg für die Mitarbeit an diesem Beitrag.