Dorf, das einmal war
Auf ihrem beschwerlichen Heimweg durchs Gebirge nach Sostila, so erzählt man, hörte eine Frau plötzlich Lachen und Musik aus einem Haus in die stockfinstere Nacht dringen. Also trat sie ein in das Tanzvergnügen und, von plötzlichem Übermut erfasst, konnte sie gar nicht genug davon bekommen, bis man sie endlich ermahnte, es nicht zu übertreiben. Allzu schwach seien die Toten um dieser ihrer wilden Ausgelassenheit standzuhalten. Was daraufhin geschah weiß die Geschichte nicht mehr, nur eine einzige, rätselhafte Zeile hat der Volksmund überliefert von dieser seltsamen Nacht pian, pian Berolda, che i morti han poca forza.
Noch ehe die Geschichte der geheimnisvollen Berolda beginnt, bricht sie auch schon ab oder verliert sich irgendwo auf ihrem Heimweg in einer Andeutung, die so dunkel ist wie jenes Tal, in dem ihr Heimatdorf im ewigen Schatten liegt.
In Sostila, dem winzigen mittelalterlichen Dorf im Val Fabiolo, einem abgelegenen Tal im Veltlin, scheint aufgrund seiner besonderen Lage inmitten enger, dicht bewaldeter Täler niemals die Sonne. Es ist ein von der Außenwelt abgeschnittener Ort, in den keine Straße führt sondern nur zwei schmale Pfade aus entgegen- gesetzten Richtungen. Nur selten verirren sich Menschen in das verlassene Dorf, das im Jahre 1930 immerhin noch 100 Einwohner zählte. Bis 1958 war sogar eine Zwergschule in Betrieb, und die der Madonna vom Schnee geweihte Kirche aus dem 16. Jahrhundert hatte ihren eigenen Pfarrer, der jeden Morgen pünktlich um sechs die Messe las. In den sechziger Jahren des ver-gangenen Jahrhunderts erst verließen die letzten Bewohner ihre kalten, dunklen Steinhäuser, in denen das beschwerliche Leben durch lange Jahrhunderte gleich geblieben war. Einzig dem Wechsel der Jahreszeiten und den strengen Not-wendigkeiten des Alltags unterworfen, hatten die Frauen von Sostila an offenen Feuerstellen ohne Rauchabzug geheizt und gekocht und ihre Wäsche im eisigen Wasser des lavatoio, eines je-ner für italienische Dörfer typischen öffentlichen Steinbecken besorgt. Im Herbst, wenn die Birnen reif wurden, waren die Kinder am Morgen mit Kiepen voller Früchte aufgebrochen, um sie in den umliegenden Dörfern zu verkaufen; noch heute erinnern sich ein paar alte Leute an die unvergleichliche Süße der Birnen von Sostila.
Die alten Obstbäume gibt es zwar noch, doch nachdem die Menschen fort sind, tragen sie keine Früchte mehr. Zwar heißt es, dass bis vor kurzem ein alter Mann mit seiner Kuh im Dorf lebte, doch weiß niemand zu sagen, was aus ihm ge-worden ist, und so ist auch er vielleicht nur eine Fiktion, der Schatten eines lebendigen Menschen, ein Berggeist wie er seit je in unwirtlichen Ge-birgsregionen zuhause ist.
Tatsache ist, dass es Menschen gibt, die im Sommer für ein paar Wochen in das Dorf ihrer Ahnen zurückkehren. So dringt an einem Sonn-tagnachmittag Kindergeschrei aus der geöffneten Tür eines halbverfallenen Hauses, Lachen und Stimmengewirr. Auf einer Bank sitzt ein alter Mann, der erzählt, dass er mit seiner Frau jedes Jahr für einige Wochen nach Sostila herauf-kommt. Sie behelfen sich dann mit Gaslaternen und gehen zu Bett, wenn es dunkel wird. So sei es immer gewesen. Er ist ein wortkarger Mann, und ich frage ihn nicht, wie sie die Stille aushalten, und dass in Sostila niemals die Sonne scheint.
Es ist ein verlassenes, ein Totenhaus, das mir die Antwort bedeutet, um die ich den alten Mann nicht bitten wollte. In diesem Haus sind die unverputzten Steinwände schwarz vom Rauch, in einem winzigen Wandschrank eine schwarz-sprüngige Tasse mit zartem Blumenmuster, an der Wand, an einem Haken, eine riesige Schöpf-kelle, auch sie schwarz vom Rauch und voller Löcher. Was mag einmal aus ihr geschöpft worden sein rund um das offene Feuer? Ge-kochter Kastanienbrei, Bohnensuppe, Polenta, das typische Essen der armen Bauern im Gebirge.
Kein Platz für Seelenlärm.
Das ist die Antwort. In diesem ewigen Mittel-alter, das in Sostila einfach nur ein paar Jahr-hunderte länger gedauert hat, wollte das Leben Tag für Tag bewältigt werden, zumal im Winter, wenn die Schneemassen das Tal für Monate nahezu unzugänglich machten. Deshalb, aus Furcht und Ehrfurcht vor dem Schnee, erkoren sich die Leute die Madonna vom Schnee zur Schutzpatronin. Und so findet bis auf den heutigen Tag an jedem ersten Sonntag im August ihr zum Ruhme ein großes Fest statt, bei dem Sostila einen Tag lang zur Gegenwart erwacht. Den Rest des Jahres aber tanzt nur die unglückliche Berolda allein durch die finstere Nacht der Sprachlosigkeit.
(2009)
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Es finden sich in dem Buch sehr persönliche Geschichten zu teils eher unbekannten Orten, abseits von Klischees und sattsam Bekanntem. Man spürt den Ort hinter der Geschichte eher, als das man ihn durch Informationen erlesen könnte. Italien bietet sich dafür natürlich an: man kennt es, weiß einiges darüber, hat schon ein Gefühl dazu. Dazu passt auch die Gestaltung und Benennung als Postkarten, die ja dem Zuhausegebliebenen die Gefühle des Reisenden vor Ort schildern. Und dabei spricht die Autorin verschiedene Facetten Italiens an – ganz persönliche Erinnerungen genauso, wie Beobachtungen zum Umgang mit Italiens faschistischer Vergangenheit.
Postkarten aus Italien, Kurzprosa von Stefanie Golisch, fza verlag 2015