Der letzte Mohikaner des Literaturbetriebs

Kunst umsonst ist geschenkt.
HEL

Herbert Laschet Toussaint (HEL)

Weit vor der der neuen digitalen Literaturgattung Twitteratur hat Herbert Laschet Toussaint (HEL) den oben genannten analogen Tweet erdacht. HEL ist bekannt geworden als Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Er ist ein Archäologe des analogen Alltags, ein feiner Erzähler des Privaten, Unspektakulären, des vermeintlich banal Alltäglichen. In seinen Gedichten spürt er das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Die  Zeitgefährten sind zwischen 1977 – 2008 entstanden, es sind Gedichte für Einzelne, Kopf-, Brust- und Kniestücke, Porträts von Freunden, Kollegen, gereimte Rezensionen, Liebesgedichte, Minnesang und Totenreden, aus 33 Jahren und 7 Städten. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. Diese Gedichte legen eine Stimmung frei, die zwischen Melancholie und Unbeschwertheit, Wehmut und Klarheit wechselt. HEL präsentiert den Müllhaufen als Kehrseite des Kapitalismus. Das Unstete und Exzentrische, das Scheitern und Triumphieren, das sich in seinen unverstellten Äusserungen zu wort kommt. Dieser Artist ist ein Selbstverschwender, der humoristische Gelegenheitswerke produziert. Er nutzt sein Pseudonym, um neue künstlerische Gefilde zu erobern. Sein geistvoller Zyklus regt an, weil er dem die Rätselhaftigkeit der analogen Welt vor Augen führt. In seiner Schreibweise direkt mit Tinte oder Bleistift skizziert er ohne a priori konstruiertes Szenario. Diese Methode führte zu abrupten Richtungswechseln. Und zum Einsatz von Satire und Parodie.

Mit dem Wort Comic kategorisiert man früher unter „Sequenzielle Kunst“. In der letzten Zeit wird diese Kunst vom meinungsbildenden Feuilleton zur Graphic Nouvel hochgejazzt. Da tut es wohl, wenn sich jemand darüber nonchalant hinwegsetzt. KritzHEL mehr Understatement geht auch bei HELs Graphik kaum noch. Dieser Autor ist auf der Suche nach einer Welt hinter der Oberfläche, seine Experimentierfreude, aber auch seinen Humor und seine gesellschaftskritischen Ansätze und zeigen einen Meister der Seltsamkeit, der sich auf der Suche nach größtmöglicher Gestaltungsfreiheit nicht um Genrekonventionen schert.Er unternimmt den Versuch und läßt das Leben in Skizzen auferstehen. Diese kleinen Szenen sind – wie auch seine Gedichte – dabei immer von einer Trauer darüber durchzogen, daß die Welt, die er skizziert, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sein wird.

HEL zeigt dem Betrachter eine wunderliche Peep-Show, die den Blick in einen Raum voller Pappkameraden öffnet. Der Kern seiner Ästhetik ist die Dezentrierung des Körpers und des Blicks, die Konsequenz daraus ist, eine fast achtlose Großzügigkeit, mit der er seine Einfälle herschenkt als schöpfte er aus einer unerschöpflichen Fülle. Es mag fast nostalgisch anmuten, wenn Künstler sich traditionellen Erzählstrukturen charakteristischen Dichotomie von Bild und Text, von illustrativer Zeichnung und begleitendem geschriebenem Inhalt, annehmen. Dabei wird die allbekannte visuelle Bildsprache aus dem Bereich des Massenkonsums genutzt, weniger um ein Auflösen der Grenzen zwischen High und Low einmal mehr zu postulieren, sondern vielmehr als Rückgriff, eine Appropriation von existierenden Codes der Medienkultur.

KUNO verleiht HEL den Twitteraturpreis 2016.

 

 

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Weiterführend →

Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon. Zur Lyrik von HEL findet sich hier ein Rezensionsessay von Holger Benkel. Ein faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier.

Das „Hungertuch“ von Haimo Hieronymus in der Martinkirche, Linz.

KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‚ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich  den Schlußpunkt.

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