Wer dieses grafisch elegant gestaltete Bändchen über einen der großartigsten und bekanntesten Außenseiter der europäischen Musikgeschichte mit den beiden Essays des französischen Philosophen und Publizisten Vladimir Jankélévitch zur Hand nimmt, der sollte seine Lektüre mit dem Nachwort des Musikjournalisten Schroetter beginnen. Er nähert sich den kompositorischen Eigenheiten von Erik Saties Klavierwerken auf zwei Pfaden. Mit John Cage verweist er auf die Eigenheiten des Tons, der „durch seine Höhe, seine Lautstärke, seine Farbe und seine Dauer charakterisiert wird, und das Stille, welche das Gegenteil und deshalb der notwendige Partner des Tons ist.“ (S. 121) Da der Ton durch seine Dauer charakterisiert werde, komme man zum Schluss, dass die Dauer, „das heißt die Zeitlänge die fundamentalste der vier Charakteristika des musikalischen Materials ist.“ Stille aber könne nicht als Tonhöhe oder Harmonik gehört werden, sondern nur als Zeitlänge. Die Wiederentdeckung dieser musikalischen Wahrheit verdanke man Satie und Webern. Und Vladimir Jankélévitch (1903 – 1985), der sich, wie Schroetter anmerkt, mit dem Werk von Erik Satie (1866 – 1925) in regelmäßigen Abständen beschäftigt. Aber erst nach 1945 wird es zum Gegenstand einer nicht nur musikphilosophischen und musikalischen Auseinandersetzung. Im Mittelpunkt seiner musikologischen Studien steht von nun an vor allem die französische serielle Musik. Das deutsche musikalische Schaffen aber ist für Jankélévitch nach 1945, mit wenigen Ausnahmen (Robert Schumann, Arnold Schönberg), kein Gegenstand mehr. Es ist der unmenschliche Vernichtungswahn der Nazis, der im geistigen Schaffen des französischen Musikphilosophen eine entscheidende Abwehrhaltung hervorruft.
Zu diesem Zeitpunkt hinterlassenen Saties Kompositionen, wie John Cage kritisch anmerkt, im Schaffen von Karl-Heinz Stockhausen, Pierre Boulez oder Luigi Nono keinerlei Spuren. Erst Mitte der 1960er Jahre setzt die intensive konzertante Auseinandersetzung mit den Werken Saties ein.Der Pianist Aldo Ciccolini legte die erste Gesamteinspielung der Klavierwerke auf Schallplatte vor, eine Einspielung, die nach Schroetter die begeisterte Aufnahme durch die Kritik auslöste. Bereits 1963 hatte John Cage Saties Vexations im New Yorker Pocket Theater zum ersten Mal vorgestellt. Die musikalische Rezeption wurde seit den späten fünfziger Jahren auch von Seiten der Wiener Gruppe um Gerhard Rühm, den Post-Dadaisten wie der bildenden Kunst flankiert. Diese Gruppierungen wandten sich gegen die Rituale der bürgerlichen Hochkultur. Schroetters Verweise auf solche Wertungsstränge verdichten das rezeptive Gesamtbild vom Einfluss des Satie’schen Schaffens auf die europäische subversive Musik, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts fester Bestandteil der sog. Hochkultur geworden ist.
Dass Vladimir Jankélévitch auch mit seinen Essays und konkreten musiktheoretischen Schriften zu dieser Positionsverschiebung beigetragen hat, verdeutlicht Satie und der Morgen. Der 1957 im Band Nocturne im Pariser Verlag Albin Michel erschienene Essay richtet sich, so Schroetter, „gegen die Verklärung der Nacht in den Musikwerken des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und ganz gezielt gegen Wagners Tristan, das chef d’oeuvre der Spätromantik“ (S. 140) Diese Publikation habe im Zeichen der Nacht gestanden, was deren Kapitelfolge: 1. Le nocturne, 2. Chopin et la nuit, 3. Satie et le matin beweise. Satie sei damit der Komponist des Übergangsgeworden, „der den Morgen der französischen Musik einläutet:“ (S. 141) In der 1988 erschienen Ausgabe unter dem Titel La musique et les heures in der Edition Du Seuil fügten die Herausgeber ein weiteres Kapitel über Rimski-Korsakow hinzu und veränderten die Reihenfolge der Texte. Satie an erster Stelle stehe nun nicht mehr am Ende des Wandels, sondern markiere phänomenologisch das Ergebnis des Wandels.
Das mit einem weiteren Essay „Die Musik und das Unaussprechliche“ von Jankélévitch und dem Bekenntnis Erik Saties „Was ich bin“ ausgestattete Bändchen zeichnet sich durch eine enge interpretatorische Verbindung von Werkanalysen, musikphilosophischer Abhandlung und Werkrezeption aus. Besonders hilfreich erweist sich dabei auch das Verzeichnis der von Jankélévitch erwähnten Werke von Satie sowie die Publikationsnachweise der französischsprachigen Schriften. Diese inhaltlichen Bestandteile bilden eine flexible Verbindung zwischen den Werken (auf youtube auch im Internet hörbar) Saties und deren Interpretation, die aufgrund des ausgezeichneten Nachworts von Richard Schroettel ein vertiefendes Einhören in die Klavier- und Ballettmusik erlauben.
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Satie und der Morgen. Mit dem Essay „Die Musik und das Unaussprechliche“ von Vladimir Jankélévitch. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Richard Schroetter. Berlin (Matthes & Seitz) 2015
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.