Es geht um Minuten, sage ich, als ich mit Schlange das Theater verlasse, es endet alles, weißt du, mit einem Riesenapplaus, und das kostet uns dann Kopf und Kragen. – Ich versteh dich nicht, sagt Schlange, kommst du zu spät, weil du noch einen Termin hast? – Es geht immer um Minuten, nie um Stunden. Wenn es um Stunden ginge, wäre alles schon zu spät – oder zu früh, sage ich. – Ich versteh kein Wort, sagt Schlange, du redest bestimmt wieder in Bildern. – Natürlich rede ich in Bildern, sage ich, anders kann ich nicht reden, nur so bin ich wirklich da. – Na gut, sagt Schlange, du willst hier also schnell weg? – Ja, sage ich, ich muss raus hier, im Sommer bin ich so allein, so einsam, geradezu steppenwölfisch, während ich im Winter… im Winter igle ich mich ein und ersticke dann an der Distanzlosigkeit mir selbst gegenüber. – Per aspera ad astra, sagt Schlange. – Quatsch! Ich muss raus aus dieser Sommerlüge, aus diesem entsetzlichen Taumel, in den ich mich immer wieder stürze, diesen Rausch an der Welt, die so vergiftet ist, dieses besoffene Leben, diese Trunkenheit des Bewusstseins! Weißt du, die stechendste Klarheit trübt mich nur ein, und das Stück, das wir eben sahen, lenkt mich nur ab von meiner Lust zu sterben! – Aber doch nicht mitten im Sommer, sagt Schlange. – Wann sonst?, sage ich, soll ich warten, bis ich im Winter wieder leben will?
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Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann, Kulturnotizen 2016
In den Schlangegeschichten wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Ulrich Bergmann schrieb mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, belehrt jedoch nicht. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren Schlußpointen zum Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.
Eine Einführung in die Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.